Sind chronische Schmerzen, Depressionen oder chronische Erschöpfung häufig durch eine Erkrankung im Zahn-Kiefer-Bereich, etwa ein angebliches „Zahnstörfeld“ und/oder Zahntoxine, bedingt? Mit solchen Behauptungen müssen sich gelegentlich medizinische Sachverständige auseinandersetzen, die naturheilkundliche Behandlungen insbesondere im Bereich der privaten Krankenversicherung begutachten sollen und dabei mit Behandlungskonzepten der „ganzheitlichen Zahnmedizin“ konfrontiert werden, welche sich in der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur nicht finden.
Dazu folgende aktuelle Informationen: Die „ganzheitliche Zahnmedizin“ verfolgt vorgeblich das Ziel, prophylaktisch, diagnostisch und therapeutisch im Sinne der „Systemsicht der Natur“ zu agieren und basiert v.a. auf der „Regulationsmedizin“ und der „Störfelddiagnostik“, so die (Selbst-)Beschreibung im Programm des 139. ZAEN-Kongresses vom 16. bis 20. September 2020 in Freudenstadt. (Der ZAEN – Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren und Regulationsmedizin e.V. – ist europaweit der größte ärztliche Fachverband für Naturheilverfahren und Komplementärmedizin.)
Dabei behauptete der Zahnarzt Hansjörg Lammers zum Thema „NICO – ein unentdecktes Kieferphänomen“, dass bei Beschwerden wie chronischen Körperschmerzen, Gesichtsschmerzen, Ängsten und Depressionen oder chronischer Erschöpfung in mehr als 70 % dieser Fälle Patienten ein „Zahnstörfeld“ aufweisen. So werden seit über 100 Jahren Zähne wurzelbehandelt und Zahnentfernungen erfolgen nach gleichem Schema. Das sich durch diese Therapien aber Kieferhohlräume mit Bakterieninvasionen bilden können, sei, so Lammers, nur wenigen Zahnärzten bekannt.
Den Begriff „NICO“ erläutert der Zahnarzt Hans Lechner im „Handbuch Neuraltherapie“ (Hrsg.: Stefan Weinschenk, 2. Auflage 2020; Rezension in dieser Zeitschrift): Es handele sich nach einem Vorschlag von J. E. Bouquot um eine andere Bezeichnung für die „chronische Kieferostitis“, wobei „NICO“ eine Abkürzung sei für „Neuralgia Inducing Cavitational Osteonecrosis“ mit folgenden Kriterien:
Für die Abschätzung der angeblichen „Herdwirkung“ sei es wünschenswert, so Lechner, wurzelgefüllte Zähne nach eventuell in ihnen enthaltenen Toxinen differenzieren zu können. Dazu habe der Amerikaner B. Haley einen Test entwickelt, dessen Markenname in Deutschland OroTox sei. Mit Hilfe dieses einfachen, nicht belastenden und schmerzlosen Tests könne der Zahnarzt innerhalb von Minuten beurteilen, ob der untersuchte Zahn bakterielle Toxine abgebe. Der Test kläre die klinische Bedeutung eines wurzelgefüllten Zahnes, auch bei Fehlen (!) röntgenologischer Veränderungen.
Bei auffälligem Testergebnis sollte eine chirurgische Maßnahme – Extraktion des Zahnes oder Wurzelrevision – erwogen werden. Durch die Hinzunahme des OroTox-Tests können angeblich „sowohl ein Exodontismus wie auch eine Verharmlosung der Toxinproblematik wurzelgefüllter Zähne vermieden werden“.
Kritische Beurteilung
Bei kritischer Betrachtung handelt es sich bei der „chronischen Kieferostitis“ bzw. der „NICO“ um ein ausgesprochen umstrittenes Konzept und beim OroTox-Test um eine sehr fragwürdige Untersuchungsmethode. Davon etwa eine Zahnextraktion abhängig zu machen, ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht begründet.
So haben die Bundeszahnärztekammer, der Verband der Privaten Krankenversicherung und die Beihilfestellen von Bund und Ländern ein Beratungsforum für Gebührenordnungsfragen eingerichtet, um Rechtsunsicherheiten nach der Novellierung der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) zu beseitigen und auch Fragen der privatzahnärztlichen Qualitätssicherung zu beantworten. In den einvernehmlich gefassten Beschlüssen (Stand Juli 2020) heißt es zum Thema „NICO (Behandlung einer chronischen Kieferostitis als Störfeld)“:
„Bei der Behandlung der sogenannten NICO (Neuralgia Inducing Cavitational Osteonecrosis), der fettig-degenerativen Osteolyse/Osteonekrose im Kieferknochen oder ähnlichen Diagnosen, handelt es sich um medizinisch nicht notwendige Maßnahmen, da die Wirksamkeit durch wissenschaftlich medizinisch fundierte Studienuntersuchungen nicht belegt ist. Darüber hinaus ist das vermeintliche Krankheitsbild der NICO weder nach ICD-10 Schlüssel noch in den Verzeichnissen der WHO als Erkrankung gelistet. Es besteht daher keine medizinische Notwendigkeit für die Durchführung der Diagnostik und der Behandlungen dieser Erkrankung, wie z.B. Cavitat-Diagnostik, OroTox-Tests sowie die Entfernung eines chronischen NICO-Störfeldes.“
(https://www.bzaek.de/goz/beratungsforum-fuer-gebuehrenordnungsfragen.html)
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden