Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) waren 2016 weltweit mehr als 1,9 Milliarden Menschen übergewichtig und mehr als 650 Millionen fettleibig. Auch in Deutschland sind Übergewicht und Adipositas ein zunehmendes Problem: Im Jahr 2014 waren bereits rund 44 Prozent der Frauen und etwa 60 Prozent der Männer übergewichtig. Als adipös galten unter den weiblichen Erwachsenen 16,5 Prozent; bei den Männern etwas mehr als 17 Prozent. Experten prognostizieren für die kommenden Jahre einen weiteren Anstieg der Adipositas hierzulande.
Begründet wird diese Entwicklung in den von Privatdozent Dr. Jan Malte Bumb gesichteten wissenschaftlichen Arbeiten zum einen durch den hohen Anteil an Zucker, Fett, Salz und Geschmacksverstärkern in Fertigprodukten. Viele Menschen nehmen so gewohnheitsmäßig mehr Kalorien zu sich als sie benötigen. „Zum anderen weisen Studien daraufhin, dass die Werbung und die Neigung, Stress durch Essen zu kompensieren, zusätzlich zu einem unkontrollierten Essverhalten beitragen. Nahrungsmittel werden so nicht zur Aufrechterhaltung des Energiehaushalts, sondern aus ‚mit abhängigen Verhaltensweisen vergleichbaren‘ Aspekten konsumiert“, erklärt der Oberarzt. Er ist an der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim tätig. Gemeinsam mit zwei Kollegen geht er der Frage nach, ob ein „abhängiger Konsum“ bestimmter Nahrungsmittel die steigende Prävalenz der Adipositas mitbedingen könnte.
Aktuelle Forschungsarbeiten sehen zum Beispiel bei einer Subgruppe vulnerabler, übergewichtiger und adipöser Patienten mehrere Kriterien einer Abhängigkeitserkrankung als erfüllt an. Als Bewertungsmaßstab diente das Diagnoseregister der WHO. Dazu gehört das „Craving“, ein starker Wunsch oder eine Art Zwang zum Essen, das insbesondere durch Nahrungsmittel mit einem hohen Anteil an Kohlenhydraten und Fetten ausgelöst werde. Des Weiteren zeige sich eine eingeschränkte Kontrollfähigkeit in Bezug auf die konsumierte Nahrungsmenge. Auch müssen die Betroffenen mit der Zeit immer größere Mengen essen, bis das Sättigungsgefühl einsetzt. „Wie von Suchterkrankten bekannt, könnte auch bei adipösen Patienten eine Toleranzentwicklung in Bezug auf Sättigung durch Nahrungsaufnahme vorliegen“, fasst der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie zusammen. Das liegt zum einen an der Vergrößerung des Magens, zum anderen an der nachlassenden Wirkung des Sättigungshormons Leptin. Auch vernachlässigten die Betroffenen oft andere Interessen und könnten den Nahrungsmittelkonsum trotz nachgewiesener schädlicher Folgen nicht einschränken. Beide Aspekte treten auch bei „klassisch“ substanzabhängigen Menschen auf.
Mittels funktioneller Magnetresonanztherapie (fMRT) konnten Forscher zudem die Aktivität einzelner Hirnareale sowohl von adipösen als auch von substanzabhängigen Patienten sichtbar machen. In beiden Gruppen zeigten sich sehr ähnliche Auffälligkeiten in Bereichen, die für Selbstkontrolle, Entscheidungsfindung und Handlungshemmnisse mitverantwortlich sind. „Hirnforscher gehen davon aus, dass dort der Grund für die Impulsivität und Zwanghaftigkeit zu finden ist, die sowohl den Konsum abhängigkeitserzeugender Substanzen als auch die wiederkehrende Heißhungeranfälle und die Größe der eingenommenen Mahlzeit bei adipösen Patienten kennzeichnen“, erklärt Bumb. Weitere Untersuchungen mit fettleibigen Probanden zeigten darüber hinaus, dass allein die bildliche Präsentation von Nahrungsmitteln bestimmte Hirnregionen anregt. Die Hirnaktivität nahm dabei mit dem Kaloriengehalt der präsentierten Nahrungsmittel zu.
Kritiker der Suchthypothese führen an, dass der Mensch zum Überleben Nahrungsmittel konsumieren muss und diese damit per se nicht mit klassischen abhängigkeitserzeugenden Substanzen vergleichbar sind. Dennoch legen die gesichteten Forschungsbeiträge nahe, Suchtmechanismen bei der Behandlung der Adipositas stärker als bisher zu beachten, um neue und effizientere Therapieformen entwickeln zu können.
J. M. Bumb et al.:
Sucht und Adipositas: Können Nahrungsmittel abhängig machen?
Suchttherapie 2018, online erschienen am 17.12.2018
Begründet wird diese Entwicklung in den von Privatdozent Dr. Jan Malte Bumb gesichteten wissenschaftlichen Arbeiten zum einen durch den hohen Anteil an Zucker, Fett, Salz und Geschmacksverstärkern in Fertigprodukten. Viele Menschen nehmen so gewohnheitsmäßig mehr Kalorien zu sich als sie benötigen. „Zum anderen weisen Studien daraufhin, dass die Werbung und die Neigung, Stress durch Essen zu kompensieren, zusätzlich zu einem unkontrollierten Essverhalten beitragen. Nahrungsmittel werden so nicht zur Aufrechterhaltung des Energiehaushalts, sondern aus ‚mit abhängigen Verhaltensweisen vergleichbaren‘ Aspekten konsumiert“, erklärt der Oberarzt. Er ist an der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim tätig. Gemeinsam mit zwei Kollegen geht er der Frage nach, ob ein „abhängiger Konsum“ bestimmter Nahrungsmittel die steigende Prävalenz der Adipositas mitbedingen könnte.
Aktuelle Forschungsarbeiten sehen zum Beispiel bei einer Subgruppe vulnerabler, übergewichtiger und adipöser Patienten mehrere Kriterien einer Abhängigkeitserkrankung als erfüllt an. Als Bewertungsmaßstab diente das Diagnoseregister der WHO. Dazu gehört das „Craving“, ein starker Wunsch oder eine Art Zwang zum Essen, das insbesondere durch Nahrungsmittel mit einem hohen Anteil an Kohlenhydraten und Fetten ausgelöst werde. Des Weiteren zeige sich eine eingeschränkte Kontrollfähigkeit in Bezug auf die konsumierte Nahrungsmenge. Auch müssen die Betroffenen mit der Zeit immer größere Mengen essen, bis das Sättigungsgefühl einsetzt. „Wie von Suchterkrankten bekannt, könnte auch bei adipösen Patienten eine Toleranzentwicklung in Bezug auf Sättigung durch Nahrungsaufnahme vorliegen“, fasst der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie zusammen. Das liegt zum einen an der Vergrößerung des Magens, zum anderen an der nachlassenden Wirkung des Sättigungshormons Leptin. Auch vernachlässigten die Betroffenen oft andere Interessen und könnten den Nahrungsmittelkonsum trotz nachgewiesener schädlicher Folgen nicht einschränken. Beide Aspekte treten auch bei „klassisch“ substanzabhängigen Menschen auf.
Mittels funktioneller Magnetresonanztherapie (fMRT) konnten Forscher zudem die Aktivität einzelner Hirnareale sowohl von adipösen als auch von substanzabhängigen Patienten sichtbar machen. In beiden Gruppen zeigten sich sehr ähnliche Auffälligkeiten in Bereichen, die für Selbstkontrolle, Entscheidungsfindung und Handlungshemmnisse mitverantwortlich sind. „Hirnforscher gehen davon aus, dass dort der Grund für die Impulsivität und Zwanghaftigkeit zu finden ist, die sowohl den Konsum abhängigkeitserzeugender Substanzen als auch die wiederkehrende Heißhungeranfälle und die Größe der eingenommenen Mahlzeit bei adipösen Patienten kennzeichnen“, erklärt Bumb. Weitere Untersuchungen mit fettleibigen Probanden zeigten darüber hinaus, dass allein die bildliche Präsentation von Nahrungsmitteln bestimmte Hirnregionen anregt. Die Hirnaktivität nahm dabei mit dem Kaloriengehalt der präsentierten Nahrungsmittel zu.
Kritiker der Suchthypothese führen an, dass der Mensch zum Überleben Nahrungsmittel konsumieren muss und diese damit per se nicht mit klassischen abhängigkeitserzeugenden Substanzen vergleichbar sind. Dennoch legen die gesichteten Forschungsbeiträge nahe, Suchtmechanismen bei der Behandlung der Adipositas stärker als bisher zu beachten, um neue und effizientere Therapieformen entwickeln zu können.
J. M. Bumb et al.:
Sucht und Adipositas: Können Nahrungsmittel abhängig machen?
Suchttherapie 2018, online erschienen am 17.12.2018