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Cerebral schwerst geschädigte Kinder nicht länger vom Blindengeld ausgeschlossen

Der heute 10-jährige Kläger erlitt bei seiner Geburt (2005) wegen einer Minderversorgung mit Sauer-stoff schwerste Hirnschäden, die unter anderem zu einer schweren mentalen Retardierung mit Intelli-genzminderung geführt haben. Der Entwicklungsstand des Klägers entspricht nur dem eines ein- bis viermonatigen Säuglings. Seine kognitive Wahrnehmungsfähigkeit ist im Bereich aller Sinnesmodalitä-ten stark eingeschränkt. Unter anderem verfügt der Kläger lediglich über basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen. Der Kläger kann - mit anderen Worten - nicht sehen.

Die Mutter des Klägers beantragte 2006 für ihren Sohn Blindengeld nach dem Bayerischen Blinden-geldgesetz. Der Freistaat Bayern lehnte den Antrag ab. Zwar liege beim Kläger eine schwerste Hirn-schädigung vor, jedoch sei das Sehvermögen nicht wesentlich stärker beeinträchtigt als die übrigen Sinnesmodalitäten. Dies aber sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur sogenann-ten cerebralen Blindheit Voraussetzung für die Gewährung von Blindengeld. Das Landessozialgericht hat dies bestätigt.

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts, der für den Nachweis einer schweren Störung des Sehver-mögens bisher verlangt hatte, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten, hat seine Rechtsprechung aufgegeben und dem Kläger Blin-dengeld zugesprochen. Er sah sich hierzu einerseits aus "prozessualen" Gründen veranlasst. Wie inzwischen zahlreiche Entscheidungen der Instanzgerichte, darunter diejenigen über den Anspruch des Klägers, zeigen, lässt sich gerade bei mehrfach schwerstbehinderten Kindern eine spezifische Störung des Sehvermögens medizinisch kaum verlässlich feststellen. Diesbezüglich hat sich das Kri-terium der spezifischen Sehstörung als nicht praktikabel erwiesen; es führt zu einer Erhöhung des Risikos von Zufallsergebnissen.

Vor allem aber sieht der 9. Senat unter dem Aspekt der Gleichbehandlung behinderter Menschen vor dem Gesetz (Artikel 3 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes) materiell-rechtlich keine Rechtferti-gung mehr für dieses zusätzliche Erfordernis. Der 9. Senat kann keinen hinreichenden sachlichen Grund dafür erkennen, dass zwar derjenige Blindengeld erhalten soll, der "nur" blind ist, nicht aber derjenige, bei dem zusätzlich zu seiner Blindheit noch ein Verlust oder eine schwere Schädigung des Tastsinns oder sonstiger Sinnesorgane vorliegt, bei dem aber nicht von einer deutlich stärkeren Be-troffenheit des Sehvermögens gegenüber der Betroffenheit sonstiger Sinnesorgane gesprochen wer-den kann.

Das in den Materialien des Bayerischen Landesgesetzgebers zum Ausdruck kommende Anliegen, dass Störungen aus dem seelisch/geistigen Bereich nicht zu einem Blindengeldanspruch führen sol-len, kann die Ungleichbehandlung schwer cerebral geschädigter Behinderter nicht begründen. Auch in den Fällen, in denen neben dem fehlenden Sehvermögen weitere oder alle Sinnesorgane schwer geschädigt sind, ändert dies nichts daran, dass der Betroffene sowohl in tatsächlicher wie auch in rechtlicher Hinsicht blind ist.

Insbesondere stellt die Erwägung, dass derjenige, der wegen schwerster cerebraler Schäden zu kei-ner oder so gut wie keinen Sinneswahrnehmungen fähig ist, des Blindengeldes nicht bedürfe, weil behinderungsbedingte Mehraufwendungen ohnehin nicht ausgeglichen werden könnten, keinen sol-chen sachlichen Grund dar. Denn das Blindengeld wird derzeit ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf pauschal gezahlt. Dabei ist gerade Sinn und Zweck der Pauschale, bei festgestellter Schädigung auf die Ermittlung des konkreten Mehrbedarfs sowie einer konkreten Ausgleichsfähigkeit zu verzichten.

Az.: B 9 BL 1/14 R D.W. ./. Freistaat Bayern

Medieninformation des BUNDESSOZIALGERICHT; Pressestelle; Graf-Bernadotte-Platz 5, 34119 Kassel

 

Hinweis auf die Rechtslage

Bayerisches Blindengeldgesetz (BayBlindG)

Artikel 1: Anspruch

(1) Blinde und taubblinde Menschen erhalten auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben ….. zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen ein monatliches Blindengeld.

(2) 1 Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt. 2 Als blind gelten auch Personen,

1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,

2. bei denen durch Nummer 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem

solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach

Nummer 1 gleichzuachten sind.

(3) …..