Einen zentralen Unterschied hatte die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bisher akzeptiert: die von Ärzten oder Pflegekräften des Dienstleisters "MedicProof" der privaten Krankenversicherung eingeholten Gutachten waren auch für die Sozialgerichte verbindlich, solange sie nicht "offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen". Ein Sozialgericht durfte deshalb im Prozess eines Pflegebedürftigen gegen dessen privates Versicherungsunternehmen nur dann den Sachverhalt durch die Einholung eines gerichtlichen Gutachtens selbst aufklären, wenn das Gutachten der privaten Krankenversicherung erkennbar unzutreffend ist. Diese Abweichung von der Rechtslage bei der so- zialen Pflegeversicherung hat der 3. Senat des Bundessozialgerichts mit einem Urteil vom 22. April 2015 beendet.
Nach § 23 SGB XI müssen die Leistungen in der privaten Pflegeversicherung denen der sozialen Pflegeversicherung entsprechen, und für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit gelten dieselben Maßstäbe. Mit diesem Gleichbehandlungsgebot ist es nicht vereinbar, wenn Gutachten eines privaten Versicherungsunternehmens im sozialgerichtlichen Verfahren generell Bindungswirkung haben, also die Sachaufklärung des Gerichts auf Fälle grob unzutreffender Feststellungen beschränkt ist. Die ge- setzliche Grundlage dieser Verbindlichkeitsanordnung in § 84 Absatz 1 Satz 1 Versicherungsvertrags- gesetz, die für alle Arten der Schadensversicherung gilt, erfasst die private Pflegeversicherung nicht. An seiner abweichenden Rechtsprechung aus den Jahren 2001 und 2004 hält der Senat nicht mehr fest.
"Dieselben Maßstäbe" im Sinne des § 23 Absatz 6 SGB XI müssen auch für die Ausgestaltung des gerichtlichen Rechtsschutzes in der Pflegeversicherung bestimmen; die Bindung der Sozialgerichte an "nur" falsche, aber nicht "offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweichende" Gutachten ist wegen der starken Einbindung in die gesetzlichen Vorgaben nach dem SGB XI mit der Garantie eines effektiven Rechtsschutzes in der Pflegeversicherung nicht vereinbar. Das gilt umso mehr, als die "Feststellungen" der privaten Versicherungsunternehmen für die große Gruppe der privat Versicher- ten, die ergänzende Beihilfeleistungen nach beamtenrechtlichen Grundsätzen erhalten, faktisch auch für die Höhe der Beihilfe verbindlich sind. Die Beihilfestellen im Bund und in den Ländern schließen sich in der Regel ohne eigene Prüfung den Feststellungen der privaten Krankenversicherung an und gewähren Leistungen nach der Pflegestufe, in die die Versicherung den Betroffenen auf der Basis des Gutachtens von MedicProof einstuft.
Künftig sind im sozialgerichtlichen Verfahren Gutachten von "MedicProof" wie solche des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zu behandeln.
Az.: B 3 P 8/13 R M. ./. Allianz Private Krankenversicherungs-AG
Hinweise zur Rechtslage
§ 23 Abs. 1 und Abs. 6 SGB XI
(1) 1Personen, die gegen das Risiko Krankheit bei einem privaten Krankenversicherungsunterneh- men mit Anspruch auf allgemeine Krankenhausleistungen oder im Rahmen von Versicherungs- verträgen, die der Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 des Versicherungsvertragsgesetzes genügen, versichert sind, sind vorbehaltlich des Absatzes 2 verpflichtet, bei diesem Unternehmen zur Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit einen Versicherungsvertrag abzuschließen und aufrechtzuerhalten. 2Der Vertrag muß ab dem Zeitpunkt des Eintritts der Versicherungspflicht für sie selbst und ihre Angehörigen oder Lebenspartner, für die in der sozialen Pflegeversiche- rung nach § 25 eine Familienversicherung bestünde, Vertragsleistungen vorsehen, die nach Art und Umfang den Leistungen des Vierten Kapitels gleichwertig sind. 3Dabei tritt an die Stelle der Sachleistungen eine der Höhe nach gleiche Kostenerstattung.
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(6) Das private Krankenversicherungsunternehmen oder ein anderes die Pflegeversicherung betrei- bendes Versicherungsunternehmen sind verpflichtet,
1. für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie für die Zuordnung zu einer Pflegestufe dieselben Maßstäbe wie in der sozialen Pflegeversicherung anzulegen und
2. die in der sozialen Pflegeversicherung zurückgelegte Versicherungszeit des Mitglieds und seiner nach § 25 familienversicherten Angehörigen oder Lebenspartner auf die Wartezeit anzurechnen.
§ 84 Abs. 1 Versicherungsvertragsgesetz
(1) 1Sollen nach dem Vertrag einzelne Voraussetzungen des Anspruchs aus der Versicherung oder die Höhe des Schadens durch Sachverständige festgestellt werden, ist die getroffene Feststel- lung nicht verbindlich, wenn sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweicht. 2Die Feststellung erfolgt in diesem Fall durch gerichtliche Entscheidung. 3Dies gilt auch, wenn die Sachverständigen die Feststellung nicht treffen können oder wollen oder sie verzögern.
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