Als die Staatsschulden des bauwütigen Königs („Neuschwanstein“) überhand nahmen, wurde Ludwig II. am 9. Juni 1886 kurzerhand von der bayerischen Regierung entmündigt. Grundlage war ein tags zuvor veröffentlichtes psychiatrisches Gutachten, das den Patienten für unheilbar „seelengestört“ erklärte. Der Historiker Professor Wilhelm Kaltenstadler aus Rohrbach wirft dem damaligen Ärzteteam um Professor Bernhard von Gudden vor, ein Gefälligkeitsgutachten erstellt zu haben, ohne den Patienten zuvor untersucht zu haben. „Das Ergebnis stand eigentlich schon vor der Anfertigung fest“, schreibt Professor Kaltenstadler, der von Gudden für voreingenommen hält. Bereits im März 1886 habe dieser den König mit unbegreiflicher Leichtfertigkeit für geisteskrank erklärt.
Inhaltlich hält das Gutachten den Überprüfungen nicht stand. Moderne psychiatrische Diagnosen wie Schizophrenie oder Paranoia lassen sich auf Ludwig II. nicht anwenden. Auch die 2007 in der DMW aufgestellte Hypothese einer „schizoiden Persönlichkeit“ erklärt nach Ansicht von Professor Kaltenstadler nicht die abweichende Verhaltensweise des Märchenkönigs. „König Ludwig II. war auf jeden Fall ein menschenscheuer Sonderling, unzweifelhaft ein realitätsfremder Träumer“, schreibt der Historiker: „Aber unheilbar geisteskrank war er nicht.“ Der König habe allenfalls unter etwas gelitten, was Psychiater als „nichtstoffliche Sucht“ bezeichnen. Professor Kaltenstadler: „Es war eine Abhängigkeit, die sich wohl nur ein König leisten konnte: die Bausucht. Ludwig II. war ein Bau-Junkie.“
Körperlich gesund war Ludwig II. allerdings auch nicht. Als Säugling erlitt er eine Hirnhautentzündung. Später wurde er von Atemwegserkrankungen, Erkältungen sowie Kopf- und Zahnweh geplagt. Die Zahnschmerzen begleiteten den König, der trotz seiner Eitelkeit seine Zähne nicht besonders pflegte, ein Leben lang. Schon in jungen Jahren verlor er einige Zähne, vor allem Vorderzähne. Die Folge waren Sprachstörungen, die nach Einschätzung von Professor Kaltenstadler durchaus die Persönlichkeit des Königs beeinflusst haben könnten: „Vielleicht haben auch der durch die faulen Zähne verursachte starke Mundgeruch und die nicht mehr zu übersehenden Zahnlücken die Menschenscheu des eitlen Königs gesteigert.“
Da der König Zahnarztbesuche vermied, muss er tagsüber, aber auch nachts unter Zahnschmerzen gelitten haben. Sie könnten die ausgesprochene Nachtaktivität des „Mondkönigs“ in seinen letzten Lebensjahren erklären. Ludwig II. soll auch zu Chloralhydrat gegriffen haben, dem ersten synthetischen Schlafmittel, das wegen Suchtgefahr und Organschäden heute nicht mehr verwendet wird. Auch Opium und Alkohol waren damals beliebte Schlafmittel. Die Behauptung, Ludwig II. sei „drogen- und alkoholabhängig“ gewesen, erscheint dem Autor angesichts der jahrzehntelangen Falschmeldungen über den König aber nicht glaubwürdig.
W. Kaltenstadler:
War Ludwig II. geisteskrank? Kritische Anmerkungen zum Gutachten von Prof. Dr. med. B. von Gudden.
DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift 2011; 136 (51/52): S. 2684–2691