LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 3. Mai 2024 – L 8 R 2314/22
Leitsätze
1. Das grundsätzliche Recht eines Beteiligten auf eine Begleitperson bei der Begutachtung durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen und die Verwertbarkeit des Gutachtens sind zu unterscheidende Fragestellungen. Hat ein Beteiligter von seinem Recht auf Begleitung im Rahmen der Begutachtung Gebrauch gemacht und besteht die Gefahr, dass durch die Anwesenheit des Dritten das Ergebnis der Exploration und Begutachtung verfälscht wurde, so entfällt dieser Mangel des Gutachtens nicht dadurch, dass die gerichtliche Anordnung eines zumindest zeitweisen Ausschlusses des Dritten von der Begutachtungssituation versäumt wurde. Vielmehr ist ein entsprechender Mangel vom Gericht gleichwohl zu würdigen.
2. Wird in einem neurologisch-psychiatrischen Gutachten nicht hinreichend dargelegt, in welchem konkreten Umfang eine Begleitperson des Probanden während der Begutachtung tatsächlich anwesend war und ggf. - auch später - vom Gutachter separat befragt wurde, so erschwert dieser methodische Mangel die Würdigung des Gutachtens und ist geeignet, zumindest seine Überzeugungskraft zu schmälern.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 07.07.2022 aufgehoben, soweit die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.06.2020 zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung an die Klägerin vom 01.01.2022 bis zum 31.12.2024 verurteilt wurde.
Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung hat.
Die 1966 geborene Klägerin ist gelernte Bäckereifachverkäuferin und war noch von 2008 bis 2013 als Bürohilfe in Teilzeit versicherungspflichtig beschäftigt. Nach einem anschließenden Bezug von Sozialleistungen mit Pflichtbeiträgen erhielt sie ausweislich des Versicherungsverlaufs ab Februar 2015 Arbeitslosengeld II, teilweise wiederum parallel zu Pflichtbeitragszeiten, zum Bezug anderer Sozialleistungen oder zur Verrichtung geringfügiger Beschäftigungen.
Am 21.08.2014 wurde im Auftrag der Agentur für Arbeit G1 ein Gutachten mit symptombezogener Untersuchung durch T1 erstellt. Dieser gab als vermittlungs- und beratungsrelevante Gesundheitsstörung eine psychische Erkrankung an. Die Klägerin sei für voraussichtlich bis zu 6 Monate nur im Umfang von unter 3 Stunden täglich leistungsfähig. Medizinische Maßnahmen seien vorrangig, wobei eine teilstationäre Behandlung geplant sei.
Vom 09.05.2019 bis 30.05.2019 befand sich die Klägerin zur stationären Rehabilitation in der Klinik R1. Im betreffenden Entlassungsbericht wurden an Gesundheitsstörungen ein Overlapsyndrom aus intrinsic Asthma bronchiale und COPD (funktionell GOLD II mit Lungenemphysem), eine Nikotinabhängigkeit, eine Fibromyalgie, eine chronische Depression und eine BWS-Skoliose angegeben. Die Tätigkeit als Bürogehilfin sei nur unter 3 Stunden täglich möglich, für leichte Tätigkeiten wurde ein mindestens 6-stündiges tägliches Leistungsvermögen angekreuzt. In der sozialmedizinischen Epikrise wurde ausgeführt, dass die Gesamtbeurteilung im Wesentlichen durch die Begleiterkrankung (rheumatologische Erkrankung und Depression) bestimmt werde. Sodann wurde ausgeführt: „Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist die Patientin zukünftig in der Lage, leichte Arbeiten in einem zeitlichen Umfang von 6 Stunden und mehr auszuüben. Unter Würdigung aller Erkrankungen ist keine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert mehr durchführbar.“
Mit Bescheid vom 30.09.2019 stellte das Landratsamt O1 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 seit 24.07.2019 aufgrund eines Bronchialasthmas und einer Lungenblähung, einer seelischen Störung nebst Tinnitus und chronischem Schmerzsyndrom sowie einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Wirbelsäulenverformung fest. Kein Einzel-GdB von wenigstens 10 ergebe sich aus einer Divertikulitis, Schilddrüsenfunktionsstörungen und einer Refluxkrankheit der Speiseröhre; eine Schuppenflechte sei nicht nachgewiesen.
Am 29.10.2019 beantragte die Klägerin die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung mit der Begründung, nur noch leichte Tätigkeiten stundenweise nach krankheitsbedingter Möglichkeit verrichten zu können. Sie halte sich seit 2015 für erwerbsgemindert. Sie leide etwa wegen Psoriasis an Juckreiz, offenen Stellen und Entzündungen, wegen einer Struma multinodosa u.a. an Müdigkeit und Erschöpfung, wegen eines Overlapsyndroms bei Asthma bronchiale und COPD u.a. an einem Druckgefühl auf der Brust, Verschleimung der Atemwege und Atemnot in Ruhe und bei Belastung, wegen einer Divertikulose an Durchfall und Blähungen, wegen Skoliose an eingeschränkter Beweglichkeit und Schmerzen, wegen Tinnitus an ständigen Ohrgeräuschen, wegen Fibromyalgie u.a. an Schlafstörungen, Müdigkeit, Erschöpfung, Konzentrationsproblemen, Reizempfindlichkeit und Schmerzen sowie wegen Depressionen u.a. an Zukunftsängsten, Panikattacken und Ängsten. Vorgelegt wurden zudem neben dem Gutachten der Agentur für Arbeit G1 vom 21.08.2014 und dem Bescheid des Landratsamtes O1 vom 30.09.2019 noch Auflistungen der Behandler und unverträglicher Medikamente sowie medizinische Behandlungsunterlagen in Form eines Ausdrucks einer Patientenkartei von M1 vom 12.08.1997 bis zum 10.06.2016 und von Befundberichten ab dem Jahr 2008.
Nach Einholung einer sozialmedizinischen Stellungnahme durch B1 vom 18.11.2019 unter Auswertung der medizinischen Unterlagen lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20.11.2019 den Rentenantrag ab. Aus den Einschränkungen aus einem Overlapsyndrom aus intrinsic Asthma bronchiale und COPD (funktionell GOLD II mit Lungenemphysem), einer Nikotinabhängigkeit, einer Fibromyalgie mit mehreren Lokalisationen, einer chronischen Depression, einer BWS-Skoliose, einer Psoriasis, einer Struma multinodosa, einer Sigmadivertikulose, einem rezidivierenden lokalen LWS-Syndrom sowie einer gastroösophagealen Refluxkrankheit ergebe sich kein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, da die Klägerin noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein könne.
Hiergegen erhob die Klägerin am 16.12.2019 Widerspruch. Zur Begründung führte ihr Prozessbevollmächtigter mit Schreiben vom 25.02.2020 aus, die sich aus den Gesundheitsstörungen der Klägerin ergebenden Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit seien nicht hinreichend berücksichtigt und die Schwere der psychischen Beeinträchtigungen sei verkannt worden. Bereits auf pneumologischem und orthopädischem Fachgebiet seien massive Beeinträchtigungen vorhanden, im Vordergrund seien jedoch ein Fibromyalgiesyndrom und ausgeprägte Depressionen mit ausgeprägter Müdigkeit, Ein- und Durchschlafstörungen, erheblichen Konzentrationsproblemen, starker Erschöpfung, Licht- und Kälteempfindlichkeit, Kraftlosigkeit sowie anhaltenden chronischen Schmerzen an verschiedenen Lokalisationen zu beachten. Aufgrund einer Medikamentenunverträglichkeit könne die Klägerin weder Antidepressiva noch Schmerzmittel einnehmen. Wegen Erschöpfung nach kurzer leichter körperlicher Tätigkeit könne sie bereits ihren Haushalt nicht mehr alleine versorgen. Nach den Ausführungen im Reha-Entlassungsbericht sei keine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert mehr durchführbar.
Vorgelegt wurden u.a. Berichte der S1 aus 2014 und wieder ab Juli 2019 (Diagnosen zuletzt am 10.01.2020: schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome mit ggw. Teilremission, schädlicher Gebrauch von Alkohol ggw. abstinent, V.a. Abhängigkeitssyndrom bei Alkoholgebrauch ggw. abstinent), des P1 aus 2019 (Diagnosen zuletzt am 17.10.2019: COPD, Lungenemphysem), der R2 aus 2018 samt von dieser veranlasster radiologischer Untersuchungen (Diagnosen zuletzt am 11.09.2018: Fibromyalgie-Syndrom, Psoriasis, Asthma bronchiale, Struma multinodosa, Sigmadivertikulose – hinsichtlich der differentialdiagnostisch erwogenen Entwicklung einer Psoriasis-Arthritis zuletzt keine aktuellen Hinweise auf eine solche Erkrankung) sowie eine ärztliche Bescheinigung des B2 vom 09.12.2019 über das Bestehen einer Fibromyalgie mit aktueller Verschlechterung der Schmerzsymptomatik und einer seit Jahren bestehenden Depression mit deutlicher Verschlimmerung.
Hierzu holte die Beklagte wiederum eine sozialmedizinische Stellungnahme ihres ärztlichen Dienstes vom 25.03.2020 ein. Danach sei der Verlauf der Lungenerkrankung stabil, eine orthopädische Behandlung habe zuletzt im Oktober 2019 und eine rheumatologische im Jahr 2018 stattgefunden. Hinsichtlich des orthopädisch als maßgeblich erachteten Schmerzsyndroms seien die Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft, eine multimodale Schmerztherapie wäre hilfreich. Eine für das Leistungsvermögen relevante depressive Symptomatik bestehe nicht, zudem sei die Depression behandelbar und eine weitere Alkoholabstinenz empfohlen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17.06.2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen seien an Gesundheitsstörungen eine chronisch obstruktive Atemwegserkrankung mit Lungenüberblähung bei fortgeschrittenem Rauchen (medikamentös behandelt), degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit lumbalem Bandscheibenvorfall 2014 ohne neuromuskuläres Defizit, ein chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren (extern Fibromyalgie), eine Alkoholabstinenz sowie Anpassungsstörungen nachzuvollziehen. Unter Berücksichtigung aller Gesundheitsstörungen und der sich daraus ergebenden funktionellen Einschränkungen bei der Ausübung von Erwerbstätigkeiten seien keine Auswirkungen ersichtlich, die das Leistungsvermögen der Klägerin für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zeitlich einschränkten. Ihr seien daher noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ohne weitere Einschränkungen sechs Stunden und mehr täglich zumutbar.
Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 24.06.2020 beim Sozialgericht Ulm (SG) Klage erhoben und beantragt, den Bescheid vom 20.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.06.2020 aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren. Zur Klagebegründung ist im Wesentlichen die Widerspruchsbegründung wiederholt worden. Nicht nachvollziehbar sei, warum die Beklagte bei der diagnostizierten schweren Depression nur von einer Anpassungsstörung ausgehe und warum weitere schmerztherapeutische Behandlungen trotz bisheriger Erfolglosigkeit zielführend seien. Durch COPD, Reflux und Skoliose seien Beweglichkeit und Belastbarkeit eingeschränkt. Völlig unberücksichtigt sei zudem ein Tinnitus. Insgesamt sei die Klägerin nicht mehr in der Lage, mindestens 3 Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten.
Das SG hat schriftliche sachverständige Zeugenauskünfte des P1, des B2 und der S1 eingeholt.
P1 hat in einer Auskunft vom 30.07.2020 zwei Vorstellungen der Klägerin am 24.04.2019 und am 17.10.2019 angegeben. An Gesundheitsstörungen sind eine chronisch obstruktive Bronchitis und ein Lungenemphysem angegeben worden. Leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne die Klägerin noch mindestens 6 Stunden täglich verrichten, wobei große Hitze oder Kälte sowie Staubbelastung am Arbeitsplatz vermieden werden sollte.
Der B2 hat in einer Auskunft vom 10.08.2020 eine Behandlung der Klägerin seit 20.05.2016 angegeben. An Gesundheitsstörungen sind eine Fibromyalgie, ein chronisches Schmerzsyndrom, eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome, ein schädlicher Gebrauch von Alkohol, eine COPD, eine Struma multinodosa, eine BWS-Skoliose und eine Coxa valga angegeben worden. Seit März 2020 habe sich eine Verschlechterung der Schmerzsymptomatik ergeben. Maßgeblich für die Beurteilung des Leistungsvermögens seien Leiden auf dem Fachgebiet der Schmerztherapie und der Psychiatrie. Eine Stellungnahme zum quantitativen Leistungsvermögen ist nicht abgegeben worden.
S1 hat in einer Auskunft vom 27.10.2020 über 4 Behandlungstermine nach 2014 berichtet. Im jüngsten beigefügten Befundbericht vom 02.06.2020 sind an Diagnosen eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome ggw. in Teilremission und ein V.a. Abhängigkeitssyndrom bei Alkoholgebrauch (ggw. abstinent) angegeben worden. Als maßgeblich für die Beurteilung des Leistungsvermögens hat S1 das psychiatrische und schmerztherapeutische Fachgebiet eingeordnet; eine konkrete Einschätzung zum zeitlichen Leistungsvermögen ist nicht erfolgt.
Bereits mit Schriftsatz der Klägerseite vom 29.09.2020 ist ein Befundbericht der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Klinikums E1 über ein dortiges diagnostisches Gespräch mit der Klägerin vom 09.07.2020 vorgelegt worden. Zudem hat das SG einen Entlassungsbericht des Klinikums E1 vom 04.03.2021 über eine dortige stationäre Behandlung der Klägerin in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie vom 12.10.2020 bis zum 08.12.2020 beigezogen. Im Entlassungsbericht sind an Diagnosen eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, eine Somatisierungsstörung, eine sonstige Reaktion auf schwere Belastung, eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig schwerer depressiver Episode ohne psychotische Symptome, eine Alkoholabhängigkeit (gegenwärtig abstinent) und ein nitritpositiver Harnwegsinfekt angegeben worden.
Das SG hat von Amts wegen ein Gutachten des E2 vom 14.06.2021 eingeholt. Nach dessen Angaben habe die Untersuchung auf ausdrücklichen Wunsch der Klägerin in Anwesenheit einer als ihre beste Freundin vorgestellten Bekannten stattgefunden. E2 hat bei der Klägerin an Gesundheitsstörungen eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine rezidivierende depressive Störung mit schwerer depressiver Episode ohne psychotische Symptome, eine Alkoholabhängigkeit sowie fachfremd ein Bronchialasthma und eine COPD diagnostiziert. Zu vermeiden seien körperlich mehr als leichte Tätigkeiten, Arbeiten unter Zeitdruck und Arbeiten mit besonderer Anforderung an die Konzentration. Möglich seien allenfalls leichte Büroarbeiten, wobei die Depression auch eine quantitative Minderung des Leistungsvermögens auf weniger als 3 Stunden täglich bedinge. Das Leistungsbild liege seit 01.01.2021 vor. Eventuell sei durch eine Therapieintensivierung im Lauf von 3 Jahren eine Besserung erreichbar, nicht jedoch in weniger als 6 Monaten. Eine Untersuchung oder Begutachtung auf einem anderen Fachgebiet erscheine nicht erforderlich.
Die Beklagte hat unter Vorlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme des N1 vom 22.07.2021 an ihrer Einschätzung festgehalten. Das SG hat hierzu eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme des E2 vom 02.10.2021 eingeholt; dieser hat an seiner sozialmedizinischen Einschätzung im Gutachten festgehalten. Die Beklagte hat mit Schreiben vom 20.12.2021 noch einen aktuellen Versicherungsverlauf der Klägerin übersandt. Mit Schreiben der Klägerseite vom 05.07.2022 ist angegeben worden, dass seit Anfang des Jahres 2022 eine wöchentliche psychotherapeutische Behandlung der Klägerin stattfinde, der Zustand jedoch unverändert sei.
Mit Urteil vom 07.07.2022 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 20.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.06.2020 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin aufgrund eines Versicherungsfalls am 10.06.2021 für die Zeit vom 01.01.2022 bis 31.12.2024 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Im Übrigen ist die Klage abgewiesen worden. Aus dem Gutachten des E2 ergebe sich, dass die Klägerin auch körperlich leichte Tätigkeiten nur unter 3 Stunden täglich verrichten könne. Das Gutachten sei ungeachtet der Anwesenheit der Freundin der Klägerin während der Untersuchung verwertbar, da die Freundin nach den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht in das Untersuchungsgespräch eingegriffen habe, sondern vielmehr zusätzlich vor oder nach der Exploration vom Sachverständigen separat befragt worden sei. Das Hauptleiden der Klägerin liege auf nervenärztlichem Fachgebiet insbesondere durch eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Mit der depressiven Störung vergesellschaftet sei eine Fibromyalgie. Schmerzmittel kämen zwar nicht zum Einsatz, wobei solche bei Fibromyalgie weitgehend wirkungslos seien. Es bestehe eine Tendenz zum Vermeidungsverhalten und zudem auch keine nachhaltige Alkoholabstinenz. Angesichts der nur sporadischen ärztlichen Behandlung sei eine Erwerbsminderung allerdings erst ab dem Zeitpunkt der Begutachtung bei E2 am 10.06.2021 nachgewiesen; dem Entlassungsbericht des Klinikums E1 könne nicht gefolgt werden. Zudem sei die Rente auf 3 Jahre zu befristen, da bei Therapieintensivierung eine Besserung möglich erscheine. Somit ergebe sich ein Rentenbeginn zum 01.01.2022 und eine Dauer des Rentenanspruchs bis zum 31.12.2024. Das Urteil des SG ist der Beklagten am 18.07.2022 zugestellt worden.
Am 12.08.2022 hat die Beklagte beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung gegen das Urteil des SG eingelegt. Das Gutachten des E2 sei nicht geeignet, den Vollbeweis einer Erwerbsminderung der Klägerin zu erbringen. Entsprechend der sozialmedizinischen Stellungnahme des N1 vom 22.07.2021 leide das Gutachten unter erheblichen Mängeln und Widersprüchlichkeiten. Ausweislich einer mit der Berufungsschrift vorgelegten sozialmedizinischen Stellungnahme des S2 vom 09.08.2022 vermöge auch die ergänzende Stellungnahme des E2 seinem Gutachten nicht zur Überzeugungskraft zu verhelfen. Das SG selbst habe zudem den von E2 angegebenen Leistungsfall am 01.01.2021 mangels hinreichender Begründung verneint.
Die Beklagte beantragt sachdienlich gefasst,
das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 07.07.2022 aufzuheben, soweit die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.06.2020 zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung an die Klägerin vom 01.01.2022 bis zum 31.12.2024 verurteilt wurde, und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 07.07.2022 zurückzuweisen.
Die Klägerin ist der Berufung entgegengetreten. Die angefochtene Entscheidung des SG sei rechtmäßig. Das Vorbringen der Beklagten und die beratungsärztlichen Ausführungen seien nicht geeignet, das Vorliegen der Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung zu widerlegen.
Mit Schreiben vom 08.11.2022 hat der vormalige Berichterstatter darauf hingewiesen, dass für die Verwertbarkeit eines Gutachtens darauf abzustellen sei, ob sich eine Verfälschung oder Verzerrung der gutachterlich erhobenen psychopathologischen Befunde sicher ausschließen lasse, was von der Eingrenzbarkeit der Anwesenheit der hinzugezogenen Vertrauensperson abhänge. Die Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem SG seien für eine zuverlässige Eingrenzung zu vage.
Der Senat hat eine schriftliche sachverständige Zeugenauskunft der H1 vom 09.01.2023 eingeholt. Diese hat eine regelmäßige psychotherapeutische Behandlung der Klägerin seit 22.11.2021 mit insgesamt 40 Einzelsitzungen Verhaltenstherapie in wöchentlichem Rhythmus angegeben. An Gesundheitsstörungen sind eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig mittelgradiger Episode, eine Somatisierungsstörung, ein Abhängigkeitssyndrom (gegenwärtig abstinent) und eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung (Borderline-Typ) angegeben worden. Im Laufe der Behandlung seien temporäre Stabilisierungen erzielt worden, aufgrund der geringen Belastbarkeit und fortbestehenden psychischen Instabilität der Klägerin bereits in Alltagssituationen sei eine berufliche Tätigkeit von mindestens sechs Stunden jedoch nicht leistbar. Die leistungsmindernden Faktoren seien dem psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgebiet zuzuordnen.
Die Beklagte hat unter Vorlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme des S2 vom 16.03.2023 an ihrer Einschätzung festgehalten.
Der Senat hat von Amts wegen ein Gutachten des H2 eingeholt, welches am 18.12.2023 auf der Grundlage einer Untersuchung der Klägerin vom 21.08.2023 erstellt worden ist. H2 hat bei der Klägerin an Gesundheitsstörungen eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig mittelgradiger Episode, eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert. Zu vermeiden seien Tätigkeiten mit mittelschwerer oder schwerer körperlicher Belastung, dauerndes und überwiegendes Stehen, häufiges Bücken, gleichförmige Körperhaltungen, hoher Leistungs- und Zeitdruck, Akkord- und Fließbandarbeiten, Arbeiten im Schichtsystem, Tätigkeiten mit dem Erfordernis hoher interpersoneller Fähigkeiten, hoher Gruppenfähigkeiten sowie hoher Selbstbehauptungs- und Durchsetzungsfähigkeiten wie etwa bei hohem Publikumsverkehr sowie Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an die Konzentration, an die kognitive Flexibilität bzw. Umstellungsfähigkeit und an das psychophysische Durchhaltevermögen, etwa bezüglich der Strukturierung von Aufgaben oder der Durchführung kognitiv fordernder und konzentrativ belastender Aufgaben über einen längeren Zeitraum. Leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wechselweise im Gehen, Stehen und/oder Sitzen in geschlossenen Räumen oder im Freien könne die Klägerin jedoch noch mindestens 6 Stunden täglich verrichten. Von den betriebsüblichen Bedingungen abweichende Arbeitsbedingungen seien anzuraten.
Auf Hinweis der vormaligen Berichterstatterin vom 10.01.2024, dass das Gutachten das Klagebegehren nicht stütze, ist mit Schreiben der Klägerseite vom 15.02.2024 unter Vorlage einer Stellungnahme von H1 vom 28.01.2024 am Klagebegehren festgehalten worden.
Mit Schriftsätzen der Beklagten vom 20.02.2024 und des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 14.03.2024 haben die Beteiligten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten beider Instanzen und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat über die Berufung der Beklagten mit dem Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden.
Die gemäß § 143 SGG statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist auch im Übrigen zulässig, da im Berufungsverfahren noch eine Rentengewährung vom 01.01.2022 bis zum 31.12.2024 und somit laufende Leistungen für mehr als ein Jahr streitig sind (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die erstinstanzliche Entscheidung, soweit das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.06.2020 (§ 95 SGG) zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung an die Klägerin vom 01.01.2022 bis zum 31.12.2024 verurteilt hat. Der Senat entscheidet bei Erfolg der Berufung zudem im betreffenden Zeitraum über einen vor dem SG hilfsweise beantragten Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, der kraft Berufungseinlegung der Beklagten ohne Weiteres Gegenstand des Berufungsverfahrens wird (vgl. BSG, Urteil vom 16.08.1990 – 4 RA 10/90 –, juris Rn. 35 zur entsprechenden Situation im Revisionsverfahren; Hennig/Wagner, SGG-Kommentar, 41. EL, § 123 Rn. 12 ohne Erfordernis eines Anschlussrechtsmittels; zur entsprechenden Fragestellung im Zivilprozess bereits RGZ 77, 120 ff.; zum arbeitsgerichtlichen Verfahren BAG, Urteil vom 18.12.1980 – 2 AZR 1006/78 –, juris Rn. 35 ff.). Soweit das SG die Klage im Übrigen abgewiesen hat, ist von Klägerseite hiergegen keine Berufung eingelegt worden.
Die Berufung ist begründet.
Das SG hat zu Unrecht der Klage stattgegeben und die Beklagte zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung verurteilt. Die Klage ist zwar als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 2, Abs. 4, §§ 56, 130 Abs. 1 Satz 1 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 20.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.06.2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Diese hat weder einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung noch einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.01.2022 bis zum 31.12.2024.
Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (§ 43 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Über den Wortlaut des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI hinaus ist voll erwerbsgemindert, wer zwar noch 3 bis unter 6 Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein kann, aber nicht über einen entsprechenden leidensgerechten Arbeitsplatz verfügt (zur sog. Arbeitsmarktrente wegen Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarkts vgl. BSG, Beschluss des Großen Senats vom 10.12.1976 – GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 –, juris, Rn. 72 f., 79; BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R – juris, Rn. 22). Auf nicht absehbare Zeit besteht eine Einschränkung, wenn sie sich voraussichtlich über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten erstreckt (zu § 1247 Abs. 2 Satz 1 RVO vgl. BSG, Urteil vom 23.03.1977 – 4 RJ 49/76 –, juris, Rn. 16 a.E.).
Der Eintritt der Erwerbsminderung unterliegt dem Vollbeweis. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen (BSG, Urteil vom 15.12.2016 – B 9 V 3/15 R –, juris, Rn. 26). Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Dies bedeutet, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können und verbleibende Restzweifel bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG, a.a.O., m.w.N.). Kann sich das Gericht nicht davon überzeugen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt Erwerbsminderung eingetreten ist, hat derjenige, der daraus Ansprüche ableitet, das Risiko der Nichterweislichkeit der anspruchsbegründenden Tatsache im Sinne einer objektiven Beweislast zu tragen.
Nach diesen Maßstäben liegt eine rentenberechtigende Erwerbsminderung der Klägerin nicht vor. Der Senat vermag nach dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass die Klägerin bei Beachtung qualitativer Einschränkungen selbst leichte Tätigkeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch in einem Umfang von weniger als 6 Stunden täglich verrichten könnte.
Maßgeblich für die Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin sind Leiden auf psychiatrischem und schmerzmedizinischem Fachgebiet. Der Senat entnimmt dies den bereits vom SG eingeholten schriftlichen sachverständigen Zeugenauskünften des B2 und der S1 sowie der im Berufungsverfahren eingeholten sachverständigen Zeugenauskunft der H1.
Der Senat stellt fest, dass bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig mittelgradiger Episode, eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bestehen. Der Senat entnimmt dies den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen im Gutachten des H2. Dieser hat die Klägerin im psychopathologischen Befund als gepflegt, freundlich und auskunftsbereit sowie wach, bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten sicher orientiert beschrieben. Sie hat verzweifelt und hoffnungslos sowie psychomotorisch leicht angespannt gewirkt. Bei subjektiven Klagen über Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme ist sie in der Lage gewesen, sich über den ganzen Zeitraum der gutachterlichen Exploration von etwa 1,5 Stunden zu konzentrieren, und hat dabei keine wesentlichen Einschränkungen der Aufmerksamkeit gezeigt. H2 hat einen geordneten formalen Gedankengang festgestellt, der jedoch teilweise fixiert und eingeengt auf körperliche Beschwerden u.a. Schmerzen gewesen ist. Hinweise auf Wahn, Sinnestäuschungen und Ich-Erlebnisstörungen haben sich nicht ergeben. Die Klägerin hat eine deutliche Grübelneigung bei Zukunftssorgen und Hoffnungslosigkeit sowie starke emotionale Schwankungen mit Schwierigkeiten der Regulation eigener Emotionen und Gefühle innerer Leere beschrieben, sie fühle sich allein und im Stich gelassen. Die Stimmung hat H2 als gedrückt und die affektive Schwingungsfähigkeit als etwas reduziert beschrieben. Der Handlungsantrieb ist gemindert gewesen. Bei wiederholt parasuizidalen Handlungen und Suizidversuchen in der Vergangenheit sind Suizidgedanken zum aktuellen Zeitpunkt glaubhaft verneint worden. Testpsychologisch hat sich in der Selbstbeurteilung mittels Beck-Depressions-Inventar (BDI-II) ein Wert von 37 Punkten ergeben, der für eine schwere depressive Episode spräche, wohingegen sich in den Fremdbeurteilungsverfahren der Hamilton-Depressions-Skala (HAMD) und der Montgomery-Asberg-Depressions-Rating-Scale (MADRS) jeweils lediglich Werte entsprechend einer mittelgradigen depressiven Episode ergeben haben. Beim strukturierten klinischen Interview für DSM-IV (SKID-II) haben sich insbesondere Auffälligkeiten im Bereich der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ ergeben.
An Funktionsbeeinträchtigungen resultiert zunächst aus der depressiven Erkrankung eine herabgesetzte körperliche und geistige Leistungsfähigkeit mit mittelschweren Beeinträchtigungen in den Bereichen der Aufgabenstrukturierung, der kognitiven Flexibilität, der Umstellungsfähigkeit und des Durchhaltevermögens. Auch die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ begründet mittelschwere Funktionsbeeinträchtigungen besonders durch Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen bzw. interaktionellen Situationen. Die somatoforme Schmerzstörung führt zu einer Verschlechterung des seelischen/geistigen Zustands der Klägerin, indem aus der Einschränkung bei bestimmten Tätigkeiten eine Verminderung des Selbstwerts und des Selbstbilds resultiert; ein relevanter Einfluss der Schmerzstörung auf die geistige Leistungsfähigkeit ist jedoch nicht zu erwarten. Der Senat entnimmt dies den schlüssigen Ausführungen im Gutachten des H2. Zu vermeiden sind vor diesem Hintergrund Tätigkeiten mit mittelschwerer oder schwerer körperlicher Belastung, dauerndes und überwiegendes Stehen, häufiges Bücken, gleichförmige Körperhaltungen, hoher Leistungs- und Zeitdruck, Akkord- und Fließbandarbeiten, Arbeiten im Schichtsystem, Tätigkeiten mit dem Erfordernis hoher interpersoneller Fähigkeiten, hoher Gruppenfähigkeiten sowie hoher Selbstbehauptungs- und Durchsetzungsfähigkeiten wie etwa bei hohem Publikumsverkehr sowie Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an die Konzentration, an die kognitive Flexibilität bzw. Umstellungsfähigkeit und an das psychophysische Durchhaltevermögen, etwa bezüglich der Strukturierung von Aufgaben oder der Durchführung über einen längeren Zeitraum kognitiv fordernder und konzentrativ belasten-der Aufgaben. Aufgaben, die ein anhaltendes hohes Durchhaltevermögen erfordern, sind aktuell nur erschwert durchführbar. Auch dies entnimmt der Senat den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen des Gutachters H2.
Bei Beachtung dieser Einschränkungen jedoch stehen zur Überzeugung des Senats und in Übereinstimmung mit den schlüssigen Ausführungen des Gutachters H2 die psychiatrischen und schmerzmedizinischen Gesundheitsstörungen der Klägerin einem mindestens 6-stündigen täglichen Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht entgegen. H2 hat überzeugend ein positives Leistungsbild der Klägerin dahingehend beschrieben, dass leichte körperliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes wie z.B. Zureichen und Abnehmen von leichten Gegenständen unter 10 kg wechselweise im Gehen, Stehen und/oder Sitzen in geschlossenen Räumen oder im Freien noch mindestens 6 Stunden täglich verrichtet werden können. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung hat H2 keine Anhaltspunkte für besonders schwerwiegende körperliche Einschränkungen festgestellt, die entsprechenden leichten körperlichen Tätigkeiten entgegenstehen würden. Die psychiatrischen und schmerzmedizinischen Erkrankungen haben auf leichte körperliche Tätigkeiten bei Beachtung der genannten qualitativen Einschränkungen nach den überzeugenden Ausführungen des H2 keinen entscheidenden Einfluss; insofern umfasst das positive Leistungsvermögen auch leichte bis mittelschwierige Tätigkeiten geistiger Art, welche nur einfache interaktionelle Fähigkeiten erfordern. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben des negativen und des positiven Leistungsbildes ist die Klägerin somit noch in der Lage, mindestens 6 Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig zu sein.
Eine abweichende Beurteilung vermag auch das vom SG eingeholte Gutachten des E2 einschließlich dessen ergänzender gutachterlicher Stellungnahme nicht zu rechtfertigen, obwohl dieser auch bei Beachtung qualitativer Einschränkungen von einem unter 3-stündigen täglichen Leistungsvermögen der Klägerin ausgegangen ist.
Es bestehen bereits methodische Zweifel hinsichtlich der Verwertbarkeit oder zumindest der Beweiskraft des Gutachtens des E2 angesichts der Anwesenheit einer Vertrauensperson der Klägerin während der Begutachtung.
Der Senat hat in der Vergangenheit bereits entschieden, dass ein psychiatrisches Gutachten grundsätzlich nicht verwertbar ist, wenn bei der Exploration und Anamneseerhebung Dritte an-wesend und beteiligt waren, weil die Anwesenheit Dritter – insbesondere Familienangehöriger – die besonders bei psychiatrischen Gutachten problematische Gefahr birgt, dass die Angaben des Probanden durch die Wertungen und Motive des Dritten beeinflusst und verfälscht werden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.09.2022 – L 8 R 2664/21 –, juris, Rn. 36 ff.; ebenso bereits LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.09.2016 – L 7 R 2329/15 –, juris, Rn. 50; zurückhaltender Hessisches LSG, Urteil vom 12.07.2021 – L 5 R 149/20 –, juris, Rn. 80 f. – keine generelle Unverwertbarkeit, sondern nur bei Anhaltspunkten für eine Verfälschung).
Dieser Rechtsauffassung steht auch nicht entgegen, dass es Beteiligten grundsätzlich freisteht, eine Vertrauensperson zu einer gerichtlich angeordneten gutachterlichen Untersuchung mitzunehmen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 27.10.2022 – B 9 SB 1/20 R –, juris, Rn. 23 ff.). Dieses Recht auf Begleitung durch eine Vertrauensperson in der Begutachtungssituation ergibt sich aus der grundsätzlichen Möglichkeit, sich vor Gericht nach § 73 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGG durch prozessbevollmächtigte volljährige Familienangehörige und nach § 73 Abs. 7 Satz 3 SGG durch sonstige nahestehende Personen als Beistand begleiten zu lassen; unter Berücksichtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) gilt diese Begleitungsmöglichkeit im Grundsatz auch vor einem gerichtlich bestellten Sachverständigen als einer Hilfsperson des Gerichts (BSG, a.a.O.). Das Recht auf Begleitung besteht jedoch nicht unbeschränkbar, sondern findet eine Grenze in der Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen, wirksamen und auf Erreichen eines gerichtlich verwertbaren Beweisergebnisses abzielenden Rechtspflege, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Anwesenheit eines Dritten das Ergebnis der Exploration und Begutachtung verfälscht werden kann; insbesondere bei sensiblen Bereichen aus der persönlichen Biografie erscheint es plausibel, dass die Anwesenheit Dritter zur einer unvollständigen oder veränderten Mitteilung von Informationen beispielsweise aus Scham, Angst oder Rücksicht auf die Gefühle des Dritten führt (vgl. BSG, a.a.O. Rn. 32). Die Entscheidung über den – ggf. auch nur zeitweisen – Ausschluss einer Begleitperson von der Begutachtungssituation ist dann allerdings dem Gericht vorbehalten (BSG, a.a.O. Rn. 35 ff.).
Hiernach sind das grundsätzliche Recht auf eine Begleitperson bei der Begutachtung und die Verwertbarkeit des Gutachtens zu unterscheidende Fragestellungen. Hat ein Beteiligter von seinem Recht auf Begleitung im Rahmen der Begutachtung Gebrauch gemacht und besteht die Gefahr, dass durch die Anwesenheit des Dritten das Ergebnis der Exploration und Begutachtung verfälscht wurde, so entfällt dieser Mangel des Gutachtens nicht dadurch, dass die gerichtliche Anordnung eines zumindest zeitweisen Ausschlusses des Dritten von der Begutachtungssituation versäumt wurde. Vielmehr ist ein entsprechender Mangel vom Gericht gleichwohl zu würdigen (vgl. BSG, a.a.O. Rn. 38 a.E.).
Im vorliegenden Fall hat E2 im Gutachten angegeben, dass die Untersuchung auf ausdrücklichen Wunsch der Klägerin in Anwesenheit einer als ihre beste Freundin vorgestellten Bekannten stattgefunden habe. Soweit die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG angegeben hat, ihre Freundin sei bei der Begutachtung dabei gewesen, sei dann aber schon mal draußen gewesen und vom Gutachter auch noch separat befragt worden, ist dies aus dem Gutachten des E2 nicht nachvollziehbar. Das Gutachten lässt insofern nicht erkennen, in welchem ggf. nur eingegrenzten Umfang die Freundin der Klägerin tatsächlich während der Begutachtung anwesend war und inwiefern sich deren spätere separate Befragung auf das Ergebnis des Gutachtens ausgewirkt hat. Bei Annahme der Schilderung der Klägerin im Termin vor dem SG wären demnach im Gutachten die durch E2 erhobenen tatsächlichen Grundlagen nicht vollständig und nicht hinreichend klar voneinander abgegrenzt dargelegt worden. Ein solcher methodischer Mangel erschwert grundsätzlich die Würdigung des Gutachtens und ist geeignet, zumindest seine Überzeugungskraft zu schmälern.
Ob das Gutachten des E2, in welchem eine quantitative Leistungsminderung der Klägerin angenommen worden ist, dadurch ohnehin nicht mehr verwertbar ist, kann im vorliegenden Fall letztlich dahinstehen. Denn auch bei Verwertbarkeit des Gutachtens des E2 vermögen dessen objektivierbare Befundfeststellungen seine sozialmedizinische Schlussfolgerung nicht zu stützen, sodass das Gutachten unschlüssig ist.
E2 hat im psychischen Befund u.a. einerseits eine streckenweise Tendenz zu abwertend negativistischer und manchmal resignierend wirkender Wortwahl bei allgemein gehaltenen und wenig konkreten Angaben beschrieben, die Stimmung ist gedrückt und der Affekt begrenzt schwingungsfähig gewesen ohne spontane heitere Gemütsreaktion und mit spürbarer Anspannung und Anhedonie im nonverbalen Ausdruck. Das inhaltliche Denken hat sich zudem ängstlich pessimistisch und sehr stark auf das Schmerzerleben fokussiert gezeigt. Andererseits hat E2 während des Untersuchungsgesprächs keine spontanen Schmerzäußerungen und keine schmerzbedingte Änderung der Sitzhaltung berichtet. Auch ein Nachlassen der Aufmerksamkeit und Konzentration hat sich während der knapp 2-stündigen Anamneseerhebung nicht gezeigt. Die Spontanmotorik, -mimik und -gestik sind unauffällig gewesen, sodass im Ausdrucksverhalten kein Antriebsdefizit erkennbar gewesen ist. Damit hat E2 überwiegend einen vergleichbaren und teilweise – mit der fehlenden Feststellung einer Antriebsstörung – sogar einen noch leichteren Befund als H2 beschrieben. Zum Tagesablauf hat die Klägerin bei E2 noch durchaus erhaltene Alltagskompetenzen im Haushalt (z.B. Wäschewaschen, Kochen) und im Garten (z.B. Unkrautjäten) sowie als Hobbies Häkeln, Internetspiele und Beschäftigung mit Naturheilverfahren und Kräutern angegeben. Bereits N1 in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 22.07.2021 und auch H2 haben überzeugend herausgearbeitet, dass zumindest die von E2 gestellte Diagnose einer schweren depressiven Episode mit diesen Befunden nicht begründet werden kann. Soweit E2 zur Einschätzung des Schweregrads der Depression auf testpsychologische Selbstbeurteilungsbögen zurückgegriffen hat, vermögen diese über das Fehlen eines entsprechenden objektivierbaren klinischen Befundes nicht hinwegzuhelfen, zumal H2 bei der Klägerin eine Diskrepanz zwischen Selbstbeurteilungsskalen (schwere depressive Symptomatik laut BDI II) und Fremdbeurteilungsskalen (mittelgradige depressive Episode laut MADRS und HAM D) festgestellt hat und daraus – unter Mitberücksichtigung einer Inkongruenz zwischen verbalem Bericht und Mimik, Gestik und Verhalten der Klägerin – schlüssig und überzeugend eine wesentliche Symptomverdeutlichungstendenz i.S. einer Beschwerdeaggravation abgeleitet hat. Auch gegenüber H2 hat die Klägerin im Übrigen noch durchaus erhaltene Alltagsfähigkeiten angegeben, indem sie etwa sich um ihren Hund kümmert, ihre Wäsche wäscht, ihre Spülmaschine ein- und ausräumt, selten selbst kocht, bei entsprechender Notwendigkeit aufräumt und Staub saugt, Zeit vor dem Fernseher und auf Facebook verbringt sowie häkelt. Einkäufe erledigt sie in Begleitung von Mitbewohnern. Schließlich hat H2 bei fehlender psychopharmakologischer Therapie, einer laufenden psychotherapeutischen Versorgung erst seit 2022 und einer nur einmaligen stationären multimodal psychiatrisch-psychosomatischen Behandlung in den letzten 10 Jahren schlüssig und überzeugend eine geringe Leistungs- und Veränderungsmotivation der Klägerin herausgearbeitet, welche gegen einen höhergradigen Leidensdruck spricht und die Abgrenzung krankheitsbedingter Ursachen des anamnestisch angegebenen Vermeidungsverhaltens und sozialen Rückzugs der Klägerin von anderen Ursachen erschwert. Soweit E2 schließlich noch eine Alkoholabhängigkeit der Klägerin diagnostiziert hat, können angesichts der von H2 erhobenen Substanzanamnese, wonach die Klägerin insbesondere zur Zeit ihrer Scheidung zu viel Alkohol konsumiert hat, aktuell jedoch nur „mal ein Glas Wein oder auch etwas Bier zum Essen“ trinkt und auch dies nicht täglich, daraus keine zusätzlichen wesentlichen Funktionseinschränkungen abgeleitet werden. In Übereinstimmung mit den Ausführungen des H2 kann zur Überzeugung des Senats somit aus dem Gutachten des E2 kein derartiges Ausmaß der psychiatrischen und schmerzmedizinischen Erkrankungen der Klägerin abgeleitet werden, welches bei Beachtung der obengenannten qualitativen Einschränkungen einem mindestens 6-stündigen täglichen Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten entgegenstünde.
Entsprechendes gilt bezüglich der sachverständigen Zeugenauskunft der H1 sowie deren klägerseits ergänzend vorgelegter Stellungnahme vom 28.01.2024. Soweit diese sich in ihrer sachverständigen Zeugenauskunft gegen ein 6-stündiges Leistungsvermögen der Klägerin ausgesprochen hat, hat sie diese sozialmedizinische Einschätzung – ungeachtet der Frage einer hinreichenden (fach-) ärztlichen Qualifikation – nicht mit objektivierbaren Befunden belegt. Vielmehr hat sie (subjektive) Klagen der Klägerin über ausgeprägte intermittierende Antriebslosigkeit, Erschöpfungs- und Überforderungsgefühle, Ein- und Durchschlafstörungen mit Früherwachen, Stimmungsschwankungen von niedergeschlagen bis gereizt, Freudlosigkeit, diverse Ängste, dadurch massiven sozialen Rückzug, chronische körperliche Schmerzen im gesamten Körper und ein Lungenleiden berichtet. Solche subjektiven Beschwerdeangaben vermögen jedoch – zumal angesichts der oben dargestellten von H2 herausgearbeiteten Beschwerdeaggravation der Klägerin – objektivierbare klinische Befunde nicht zu ersetzen. Zudem hat H1 in ihrer sachverständigen Zeugenauskunft bereits temporäre Stabilisierungen der Klägerin durch einen zunehmend besseren Umgang mit ihren Ängsten und eine Verbesserung des Antriebs, der Pflege sozialer Kontakte sowie der Wahrnehmung anstehender Verpflichtungen wie Arzttermine beschrieben. Soweit H1 angegeben hat, die Klägerin habe in der Vergangenheit durchaus medikamentösen und stationären Behandlungsversuchen zugestimmt, ist dem entgegenzuhalten, dass ausweislich der anamnestischen Angaben der Klägerin gegenüber E2 Psychopharmaka immer nur „kurzfristig“ – meist nie länger als 1-2 Tage – eingenommen wurden, da die Angst vor Nebenwirkungen die Hoffnung auf eine Besserung des Befindens deutlich überwogen habe. Neben einer Behandlungslücke bei der S1 zwischen Dezember 2014 und 2019 wurde zudem ausweislich deren Befundberichte vom 22.11.2013 und vom 05.08.2014 eine empfohlene tagesklinische bzw. stationäre Behandlung seitens der Klägerin abgelehnt. In den Befundberichten vom 09.07.2019, vom 25.10.2019 und vom 10.01.2020 wurde die Ablehnung einer antidepressiven Behandlung seitens der Klägerin berichtet, laut dem Bericht vom 02.06.2020 stand die Klägerin einer bereits mehrfach besprochenen stationären Behandlung noch eher ablehnend gegenüber. Im Entlassungsbericht vom 04.03.2021 der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Klinikums E1 ist ausgehend von einem Aufnahmebefund mit u.a. affektiver Niedergeschlagenheit, aufgehobener Schwingungsfähigkeit, unruhiger Psychomotorik, vermindertem Antrieb, Anhedonie, sozialem Rückzug, Zukunftsängsten, Partnerschaftskonflikt, Interessenverlust und lebensmüden Gedanken ohne Handlungsimpuls im Verlauf dann trotz massiver Widerstandsgefühle in Bezug auf bestimmte Therapien die Klägerin in deutlich stabilisiertem Zustand und deutlich schwingungsfähiger entlassen worden, wobei sie eine medikamentöse Therapie trotz wiederholter Empfehlungen weiterhin abgelehnt hat. Dies stützt die Einschätzung des H2 bezüglich einer geringen Leistungs- und Veränderungsmotivation der Klägerin.
Zusammenfassend stehen die maßgeblichen psychiatrischen und schmerzmedizinischen Leiden der Klägerin bei Beachtung der genannten qualitativen Einschränkungen einem mindestens 6-stündigen täglichen Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten nicht entgegen. Daneben bestehen ausweislich der sachverständigen Zeugenauskunft des P1 eine chronisch obstruktive Bronchitis und ein Lungenemphysem, welche weitere qualitative Einschränkungen durch Vermeidung großer Hitze oder Kälte sowie von Staubbelastung am Arbeitsplatz begründen, bei deren Beachtung einem 6-stündigen täglichen Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten jedoch in Übereinstimmung mit der Einschätzung des P1 nicht entgegenstehen. Auch soweit der B2 mit seiner sachverständigen Zeugenauskunft einen Befundbericht des B3 vom 30.05.2020 über eine deutliche Verschlechterung i.S. einer schweren chronisch obstruktiven Lungenerkrankung vorgelegt hat, hat Herr B2 selbst die für die Beurteilung des Leistungsvermögens maßgeblichen Leiden nicht auf pneumologischem, sondern auf psychiatrischem und schmerztherapeutischem Fachgebiet verortet. E2 hat in Kenntnis der Lungenerkrankung keine Begutachtung auf einem anderen Fachgebiet für erforderlich gehalten; an diesbezüglichen Einschränkungen hat die Klägerin lediglich Atemnot z.B. beim Treppensteigen berichtet, jedenfalls koste sie dies einige Mühe. Auch H2 hat im Rahmen der körperlichen Untersuchung keine Anhaltspunkte für besonders schwerwiegende körperliche Einschränkungen festgestellt, die einer Verrichtung leichter körperlicher Tätigkeiten entgegenstünden. Insofern vermag der Senat aufgrund des Lungenleidens hinsichtlich der zumutbaren Arbeitsschwere keine weitergehenden als die bereits aufgrund der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung berücksichtigten körperlichen Einschränkungen zu erkennen. Entsprechendes gilt schließlich für die vom B2 gegenüber dem SG angegebenen Gesundheitsstörungen einer Struma multinodosa, einer BWS-Skoliose und einer Coxa valga sowie für die gegenüber H2 noch beklagten Tinnitusbeschwerden bei neurologisch objektivierbar regelrechtem Hörvermögen.
Der Arbeitsmarkt gilt der Klägerin auch nicht trotz eines vorhandenen 6-stündigen Leistungsvermögens ausnahmsweise als verschlossen.
Die Einsatzfähigkeit eines Versicherten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ist ausnahmsweise nicht gegeben, wenn er eine 6-stündige Tätigkeit nicht unter den in den Betrieben üblichen Bedingungen ausüben kann (sog. Katalogfall 1), wenn sein Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (Wegefähigkeit), relevant eingeschränkt ist (sog. Katalogfall 2) oder wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung gegeben ist (vgl. BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R –, juris, Rn. 29 m.w.N.). Keiner dieser Ausnahmefälle ist hier erfüllt.
Ein Erfordernis unüblicher Arbeitsbedingungen vermag der Senat nicht festzustellen. Solche hat selbst E2 verneint, der allerdings auch von einer quantitativen Leistungsminderung ausgeht. Soweit H2 von den betriebsüblichen Bedingungen abweichende Arbeitsbedingungen angeraten hat, ist deren Unerlässlichkeit bei Beachtung der bereits genannten qualitativen Leistungseinschränkungen daraus nicht abzuleiten. So hat H2 bezüglich der Arbeitsbedingungen etwa angegeben, die Klägerin sollte keinem zu großen Zeit- und Leistungsdruck oder zu großem sozialen Druck ausgesetzt werden und nicht mehr im Schichtsystem arbeiten. Diese Einschränkungen sind jedoch bereits durch die qualitativen Einschränkungen mit Vermeidung von hohem Leistungs- und Zeitdruck, Akkord- und Fließbandarbeiten, Arbeiten im Schichtsystem sowie Tätigkeiten mit dem Erfordernis hoher interpersoneller Fähigkeiten, hoher Gruppenfähigkeiten und hoher Selbstbehauptungs- und Durchsetzungsfähigkeiten wie etwa bei hohem Publikumsverkehr berücksichtigt. Gleiches gilt für die Vermeidung mittelschwerer oder schwerer körperlicher Arbeiten wie des Hebens schwerer Gegenstände und für die Möglichkeit zu regelmäßigem Sitzen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Empfehlung des H2 zu vermehrten Arbeitspausen, um der erhöhten psychophysischen Erschöpfbarkeit der Klägerin gerecht zu werden, auf Tätigkeiten zu beziehen, durch welche diese erhöhte Erschöpfbarkeit besonders betroffen ist, wie etwa Tätigkeiten mit dem Erfordernis einer Strukturierung von Aufgaben oder eines anhaltenden hohen Durchhaltevermögens sowie mit der Durchführung kognitiv fordernder und konzentrativ belastender Aufgaben über einen längeren Zeitraum. Für leichte bis mittelschwierige Tätigkeiten geistiger Art, welche nur einfache interaktionelle Fähigkeiten erfordern, besteht bei Vermeidung hoher Anforderungen an die Konzentration, an die kognitive Flexibilität bzw. Umstellungsfähigkeit und an das psychophysische Durchhaltevermögen nach den obenstehenden Ausführungen und in Übereinstimmung mit der Einschätzung des H2 ein 6-stündiges tägliches Leistungsvermögen. Für derartige, insbesondere für geistig und körperlich leichte Tätigkeiten vermag der Senat keine solche Einschränkung des Durchhaltevermögens der Klägerin und keine solche Erschöpfbarkeit festzustellen, welche mehr als die üblichen Pausen erforderlich machen würden.
Grundsätzlich besteht bei einer Arbeitszeit von mehr als 6 Stunden ein Anspruch auf Ruhepausen von mindestens 30 Minuten, die auch in Zeitabschnitte von jeweils mindestens 15 Minuten aufgeteilt werden können (§ 4 Satz 1 und 2 Arbeitszeitgesetz). Daneben sind zu den üblichen Arbeitsbedingungen auch die sog. persönlichen Verteilzeiten zu rechnen, welche nicht für den Arbeitsprozess selbst verwendet werden, aber dennoch als Arbeitszeit (also nicht als Pausenzeit) gerechnet werden (z.B. für persönliche Verrichtungen, Toilettengänge, Erholungs- und Entspannungszeiten außerhalb der Pausen; vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.11.2023 – L 2 R 3106/21 –, BeckRS 2023, 43183 Rn. 61). Hiernach können etwa Entspannungspausen von 5 Minuten pro Stunde im Rahmen betriebsüblicher Pausen in Anspruch genommen werden (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26.02.2015 – L 1 R 55/14 –, juris Rn. 62 ff.). Einen darüberhinausgehenden Pausenbedarf vermag der Senat im Fall der Klägerin bei Beachtung der festgestellten qualitativen Einschränkungen nicht zu erkennen. In beiden gerichtlich eingeholten Gutachten sind im Verlauf der Begutachtung keine objektivierbaren Anzeichen einer höhergradigen Einschränkung des Durchhaltevermögens beschrieben worden. Bei H2 ist die Klägerin ungeachtet beklagter Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme letztlich in der Lage gewesen, sich über den ganzen Zeitraum der gutachterlichen Exploration von etwa 1,5 Stunden ohne wesentliche Einschränkungen der Aufmerksamkeit zu konzentrieren. E2 hat ebenfalls während der knapp 2-stündigen Anamneseerhebung kein Nachlassen der Aufmerksamkeit und Konzentration festgestellt und zudem spontane Schmerzäußerungen der Klägerin oder eine schmerzbedingte Änderung der Sitzhaltung während des Untersuchungsgesprächs verneint. Unter Berücksichtigung der von H2 herausgearbeiteten Beschwerdeaggravation der Klägerin ist daher ein über die vorstehend dargestellten üblichen Arbeitsbedingungen hinausgehender zwingender Pausenbedarf der Klägerin nicht feststellbar.
Entsprechendes gilt für die Angabe des H2, wonach die Klägerin im besten Fall während ihrer Arbeitspausen sogar liegen könne. Bereits aus der Formulierung als optimale Arbeitsbedingung kann nicht darauf geschlossen werden, dass eine solche Gelegenheit zum Liegen unerlässlich wäre. Eine solche Unerlässlichkeit ließe sich angesichts der vorstehend dargestellten objektivierbaren Befunde des E2 und des H2 zum Ablauf der gutachterlichen Untersuchungen auch nicht begründen; insbesondere die von E2 beschriebene Haltungskonstanz während des Untersuchungsgesprächs ohne spontane Schmerzäußerungen der Klägerin spricht gegen ein zwingendes Erfordernis zur regelmäßigen Einnahme einer liegenden Haltung. Eine Einschränkung selbst kognitiver Grundfähigkeiten (zu deren Bedeutung vgl. Freudenberg, in: jurisPK-SGB VI, § 43 Rn. 170) ist nach den vorstehenden Ausführungen ebenfalls nicht feststellbar, sodass betriebsunübliche Arbeitsbedingungen für ein mindestens 6-stündiges tägliches Leistungsvermögen der Klägerin nicht erforderlich sind.
Eine Einschränkung der Wegefähigkeit der Klägerin liegt ebenfalls nicht vor. Das Bundessozialgericht hat das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen, nur dann für gegeben erachtet, wenn es dem Versicherten möglich ist, Entfernungen von über 500 m zu Fuß zurückzulegen, weil davon auszugehen ist, dass derartige Wegstrecken üblicherweise erforderlich sind, um Arbeitsstellen oder Haltestellen eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen (vgl. BSG, Urteil vom 21.03.2006 – B 5 RJ 51/04 R –, juris, Rn. 15 m.w.N.; bestätigt durch BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R –, juris, Rn. 29). H2 hat schlüssig und überzeugend dargelegt, dass die Klägerin noch in der Lage ist, 4-mal täglich Wegstrecken von 500 m innerhalb von jeweils 20 Minuten zurückzulegen und zweimal täglich öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten zu benutzen. Eine weitergehende Mobilitätseinschränkung kann auch den Befunden im Gutachten des E2 nicht entnommen werden, sodass eine relevante Einschränkung der Wegefähigkeit der Klägerin nicht festzustellen ist.
Schließlich liegt auch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung bei der Klägerin nicht vor. Dabei ist zunächst darauf abzustellen, ob das Restleistungsvermögen dem Versicherten typische Verrichtungen im Rahmen leichter Tätigkeiten wie z.B. das Bedienen von Maschinen oder das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen, Messen, Prüfen, Überwachen und die (Qualitäts-) Kontrolle von Produktionsvorgängen ermöglicht (vgl. BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R –, juris, Rn. 32). Erst wenn hiernach eine schwer-wiegende Behinderung alleine ein weites Feld an Einsatzmöglichkeiten versperrt (schwere spezifische Leistungsbehinderung) oder wenn mindestens zwei Leistungseinschränkungen jeweils für sich genommen eine erhebliche Einschränkung auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringen oder mehrere Leistungseinschränkungen sich aufgrund ihres Zusammentreffens insgesamt vergleichbar "ungewöhnlich" auswirken (Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen), ist eine noch mögliche Verweisungstätigkeit zu benennen (vgl. BSG, a.a.O, Rn. 33 ff.).
Bei Beachtung der festgestellten qualitativen Einschränkungen der Klägerin, insbesondere der Beschränkung der Arbeitsschwere auf körperlich leichte Tätigkeiten ohne Heben und Tragen von Lasten über 10 kg und mit der Gelegenheit zum regelmäßigen Wechsel zwischen sitzender, stehender und gehender Haltung, vermag der Senat im vorliegenden Fall keine wesentlichen Einschränkungen für im Rahmen leichter Tätigkeiten typische Verrichtungen wie das Bedienen von Maschinen oder das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen, Messen, Prüfen, Überwachen und die (Qualitäts-) Kontrolle von Produktionsvorgängen zu erkennen. Die Nennung eines konkreten Verweisungs-berufs ist somit entbehrlich.
Zusammenfassend vermag der Senat kein derartiges Ausmaß der bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen festzustellen, welches bei Beachtung qualitativer Einschränkungen einem mindestens 6-stündigen täglichen Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entgegenstünde. Eine rentenberechtigende Erwerbsminderung kann somit nicht festgestellt werden, sodass die Klägerin keinen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI hat, auch nicht in Form einer sog. Arbeitsmarktrente bei 3- bis unter 6-stündigem Leistungsvermögen und Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes. Ein Anspruch der Klägerin auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI ist aus diesen Gründen ebenfalls zu verneinen. Schließlich besteht auch kein Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI, da die Klägerin nicht vor dem 02.01.1961, sondern im Jahr 1966 geboren ist.
Die Beklagte hat somit im angegriffenen Bescheid vom 20.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.06.2020 auf den Rentenantrag der Klägerin zu Recht die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung abgelehnt. Auf die Berufung der Beklagten war daher das Urteil des SG aufzuheben, soweit das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.06.2020 zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung an die Klägerin vom 01.01.2022 bis zum 31.12.2024 verurteilt hat. Die Klage war insgesamt abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
redaktionell überarbeitete Fassung von P. Becker, Kassel