Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

BGH: Bedeutung des medizinischen Sachverständigengutachtens

Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Diesen Anforderungen genügt das hier zu beurteilende Berufungsurteil jedoch nicht:

Das Berufungsgericht hatte aus den Tätigkeiten des Geschädigten (des Klägers) den Schluss gezogen, dass dieser ab dem 1. September 2012 arbeitsfähig gewesen sei. Dabei hatte es die in der Bescheinigung des Hausarztes des Geschädigten vom 25. April 2021 sowie im ärztlichen Befundbericht der ihn behandelnden Psychotherapeutin vom 11. Mai 2021 aufgeführten gesundheitlichen Beeinträchtigungen (unter anderem Vorliegen einer rezidivierend depressiven Störung, Zustand nach posttraumatischem Belastungssyndrom, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren) als tatsächlich vorliegend unterstellt.

Es hatte aber nicht die auf diesen Diagnosen beruhende Einschätzung der behandelnden Therapeuten hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten geteilt. So war der Hausarzt des Geschädigten der Ansicht gewesen, dass aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen im Zeitraum vom 1. Mai 2012 bis 31. Dezember 2016 keine Arbeitsfähigkeit in erwerbsrelevantem Umfang bestanden habe. Die Psychotherapeutin war zu dem Ergebnis gelangt, dass aufgrund vorhandener und nicht reversibler psychischer Beeinträchtigungen für den Zeitraum von 2012 bis 31. Dezember 2016 von einer anhaltenden Erwerbsunfähigkeit des Geschädigten auszugehen sei.

Damit hatte sich das Berufungsgericht jedoch medizinische Sachkunde bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten angemaßt, deren Voraussetzungen es den Parteien nicht offengelegt hatte, kritisierte der BGH. Das Berufungsgericht hätte die Arbeitsfähigkeit im angenommenen Umfang angesichts der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen – die entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht lediglich "bloße Behauptungen", sondern einen qualifizierten Sachvortrag zur Frage der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten darstellten – nicht bejahen dürfen, ohne sich auf das Gutachten eines hinsichtlich der berührten medizinischen Bereiche fachärztlich qualifizierten Sachverständigen zu stützen.

Der gerichtliche Sachverständige wäre dann gegebenenfalls dazu zu befragen gewesen, ob die vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten aus medizinischer Sicht gegen die Annahme sprechen, dass die Arbeitsfähigkeit des Geschädigten aus gesundheitlichen Gründen im zu beurteilenden eingeschränkt gewesen war.

G.-M. Ostendorf, Wiesbaden