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BGH, Beschluss vom 12.03.2024 – VI ZR 283/21

Schlagwörter: Verletzung rechtliches Gehör – Gutachten – Sachkunde Gericht

Leitsätze:

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Vorschrift verlangt auch die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge.

Zur Verletzung rechtlichen Gehörs durch Verzicht auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens bei der Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage (hier: Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen).

Tenor:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 5. August 2021 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens wird auf bis 95.000 € festgesetzt.

Gründe:

I.

1

Die Klägerin verlangt als Dienstherrin des städtischen Feuerwehrbeamten B. (im Folgenden: Geschädigter) aus gemäß § 81 LBG NRW übergegangenem Recht von den Beklagten die Erstattung von Leistungen, die sie nach einem Verkehrsunfall am 1. August 2009 an den Geschädigten, der aufgrund des Unfalls unter anderem komplexe Frakturen des rechten Handgelenks und des rechten Unterarms erlitt und wegen Dienstunfähigkeit mit Wirkung zum 30. April 2012 in den Ruhestand versetzt wurde, erbracht hat. Streitgegenständlich sind die im Zeitraum vom 1. April 2011 bis zum 31. Dezember 2016 gezahlten Gehälter und Versorgungsbezüge in Höhe von 123.528,77 € abzüglich von den Beklagten gezahlter 11.000 €. Die volle Haftung der Beklagten gegenüber dem Geschädigten für das Unfallereignis ist dem Grunde nach unstreitig.

2

Das Landgericht hat der Klage vollumfänglich stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert und der Klage lediglich hinsichtlich der von der Klägerin im Zeitraum vom 1. April 2011 bis 31. August 2012 an den Geschädigten gezahlten Beträge in Höhe von 31.352,81 € stattgegeben. Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Nichtzulassungsbeschwerde, um die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils zu erreichen.

II.

3

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht.

4

1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Klage sei gemäß §§ 7, 18 StVG bzw. § 823 Abs. 1, § 840 Abs. 1, § 842 BGB i.V.m. § 115 VVG nur begründet, soweit die Klägerin auf sie nach § 81 LBG NRW übergegangene Ansprüche auf Erstattung des Erwerbsschadens ihres Beamten aus dem Zeitraum vom 1. April 2011 bis zum 31. August 2012 in Höhe von 31.352,81 € geltend mache. Im Übrigen, d. h. bezüglich der vom 1. September 2012 bis zum 31. Dezember 2018 gezahlten Versorgungsbezüge, unterliege sie der Abweisung. Außer Streit stehe zwar die unfallbedingte Dienstunfähigkeit des Geschädigten als Feuerwehrbeamter. Für den Zeitraum ab dem 1. September 2012 lasse sich jedoch nicht feststellen, dass und in welcher Höhe Ansprüche des Geschädigten auf Erstattung seines Erwerbsschadens auf die Klägerin übergegangen seien, da die Beklagten der Klägerin insoweit eine Verletzung der dem Geschädigten obliegenden Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 BGB) entgegenhalten könnten. Die Beklagten seien zur Erstattung der Aufwendungen der Klägerin als Dienstherrin insoweit nicht verpflichtet, als der Verletzte seinen Erwerbsschaden in zumutbarer Weise durch Verwertung der ihm verbliebenen Arbeitskraft gemindert habe oder hätte mindern können …

5

Im Ausgangspunkt stehe außer Frage, dass grundsätzlich die Beklagten darlegungs- und beweispflichtig für die Voraussetzungen des § 254 Abs. 2 BGB seien. Da es indes dem Verletzten im Verhältnis zum Schädiger obliege, seine verbliebene Arbeitskraft in den Grenzen des Zumutbaren so nutzbringend wie möglich zu verwerten und den Nachweis zu erbringen, zumutbare Arbeitsmöglichkeiten wahrzunehmen und Bemühungen um einen angemessenen Arbeitsplatz zu entfalten, treffe daneben den Geschädigten eine eigene Darlegungslast zu seinen diesbezüglichen Bemühungen. Dieser Darlegungslast sei die Klägerin nicht nachgekommen. Zwar sei aufgrund der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen davon auszugehen, dass die psychische Disposition des Geschädigten der Aufnahme einer Bürotätigkeit, wie z. B. in seinem ersten Ausbildungsberuf als Bankkaufmann, entgegenstehe. Aufgrund des unstreitigen Sachverhalts müsse aber davon ausgegangen werden, dass der Geschädigte trotz der – als wahr zu unterstellenden – von der Klägerin behaupteten körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen jedenfalls ab dem 1. September 2012 die Möglichkeit gehabt habe, seine verbliebende Arbeitskraft zur Erzielung von Einkommen einzusetzen.

6

Für die Zeit vom 1. September 2012 bis zum 31. Dezember 2015 folge dies schon daraus, dass der Geschädigte in diesem Zeitraum tatsächlich einem Erwerb, wenn auch in geringfügigem Umfang, nachgegangen sei. Unstreitig habe er nämlich als Betreuer einer Wohngruppe bei der Caritas gearbeitet. Warum der Geschädigte sich nicht bemüht habe, diese oder eine vergleichbare, höher vergütete Tätigkeit, welche weder besondere Anforderung an den Gebrauch des bei dem Unfall verletzten rechten Arms gestellt habe noch nennenswerte Bürotätigkeiten beinhaltet haben dürfte, bis zum Umfang einer Vollbeschäftigung hin aufzunehmen, sei nicht ersichtlich und nicht dargetan.

7

Für diesen Zeitraum und erst recht die Folgezeit ab dem 1. Januar 2016 gelte überdies, dass der Geschädigte unstreitig zur Generierung von Einkünften aus privatwirtschaftlicher Tätigkeit in der Lage gewesen sei, sich aber zu keinem Zeitpunkt veranlasst gesehen habe, der Obliegenheit zu genügen, seine verbliebene Arbeitskraft zur Schadensminderung einzusetzen bzw. sich auch nur um die Erlangung einer für ihn passenden Erwerbstätigkeit zu bemühen. Werde als zutreffend unterstellt, dass bei dem Geschädigten die aus der Bescheinigung seines Hausarztes vom 25. April 2021 sowie dem ärztlichen Befundbericht der ihn behandelnden Psychotherapeutin vom 11. Mai 2021 hervorgehenden Beschwerden, nämlich eine „rezidivierend depressive Störung bei zugrundeliegender Dysthymia, Z.n. PTBS nach Rollerunfall 2009, chron. Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Migräne“, vorlägen, so hätten diese den Geschädigten ersichtlich nicht oder jedenfalls keineswegs vollständig seiner Arbeitskraft beraubt: Es sei unstreitig, dass der Geschädigte weiterhin als Vermieter seiner Ferienwohnung agiere. Zudem habe der Geschädigte nach 2012 ein weiteres Gebäude erworben, welches er in Eigenleistung restauriert und renoviert habe. In dem Gebäude betreibe er seitdem – zusammen mit seiner Ehefrau und einem Freund – eine Galerie. In dieser und im Übrigen online vertreibe er Fotos, die er selbst als Fotograf aufnehme. Der Geschädigte betätige sich überdies als Waldführer und habe jedenfalls ab 2012 jährlich mehrtägige Jugendfreizeiten im Nationalpark Eifel durchgeführt. Diese Betätigungen verdeutlichten, dass der Beamte weiterhin über Fähigkeiten und Fertigkeiten, Zeit und Kraft verfüge, welche ihm – trotz der attestierten Beeinträchtigungen – auch potentiell gewinnbringend Tätigkeiten ermöglichen würden. Es dürften, würde der Geschädigte seine verbliebene Arbeitskraft in andere als in die genannten Aktivitäten investieren, fraglos Kapazitäten vorhanden sein, eine umfangreichere Erwerbstätigkeit aufzunehmen, wenigstens aber, Bemühungen um eine solche aufzunehmen. Mit der bloßen Behauptung, infolge der behaupteten Defizite sei der Beamte „erwerbsunfähig“, müsse sich mit anderen Worten um die Erzielung von Arbeitseinkommen noch nicht einmal bemühen, genüge die Klägerin in Ansehung der dem Beamten tatsächlich sehr wohl möglichen (Arbeits-)Leistungen ihrer Darlegungslast nicht, so dass mangels schlüssigen Vortrags auch nicht eine Sachaufklärung zu unternehmen sei.

8

2. Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht mit diesen Ausführungen in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat.

9

a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. BVerfGE 88, 366, 375 f. mwN).

10

Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 14. November 2023 – VI ZR 244/21, MDR 2024, 227 Rn. 13, 17 f.; vom 9. April 2019 – VI ZR 377/17, VersR 2019, 1033 Rn. 9; vom 8. März 2016 – VI ZR 243/14, juris Rn. 12; vom 13. Januar 2015 – VI ZR 204/14, NJW 2015, 1311 Rn. 5 mwN).

11

b) Diesen Anforderungen genügt das Berufungsurteil nicht.

12

aa) Das Berufungsurteil stützt die teilweise Abweisung der Klage darauf, dass der Geschädigte gegen seine Obliegenheit zur Schadensminderung (§ 254 Abs. 2 BGB) verstoßen habe. Insoweit ist im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend, dass es im Falle einer die Arbeitskraft beeinträchtigenden Gesundheitsverletzung nach der ständigen Rechtsprechung des Senats als Ausfluss der Schadensminderungspflicht dem Verletzten im Verhältnis zum Schädiger obliegt, seine verbliebene Arbeitskraft in den Grenzen des Zumutbaren so nutzbringend wie möglich zu verwerten (vgl. nur Senatsurteil vom 24. Januar 2023 – VI ZR 152/21, VersR 2023, 519 Rn. 11 mwN). …

13

bb) Das Berufungsgericht hat aus den von ihm festgestellten Tätigkeiten des Geschädigten nach dem Unfallereignis den Schluss gezogen, dass dieser ab dem 1. September 2012 – bis zum Umfang einer Vollbeschäftigung hin – arbeitsfähig war. Dabei hat es die in der von der Klägerin vorgelegten Bescheinigung des Hausarztes des Geschädigten vom 25. April 2021 (Anlage K 23) sowie dem ärztlichen Befundbericht der ihn behandelnden Psychotherapeutin vom 11. Mai 2021 (Anlage K 24) aufgeführten gesundheitlichen Beeinträchtigungen (unter anderem Vorliegen einer rezidivierend depressiven Störung, Zustand nach posttraumatischem Belastungssyndrom, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren) als tatsächlich vorliegend unterstellt. Es teilt aber nicht die auf diesen Diagnosen beruhende Einschätzung der behandelnden Ärzte hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten. Der Hausarzt des Geschädigten war der Ansicht, dass aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen im Zeitraum vom 1. Mai 2012 bis 31. Dezember 2016 keine Arbeitsfähigkeit im erwerbsrelevanten Umfang bestanden habe. Körperlich belastende Tätigkeiten hätten aufgrund der Hand- und Rückensituation und administrative Tätigkeiten wegen der eskalierenden psychischen Wirkung jeweils nur unter drei Stunden täglich durchgeführt werden können. Zumutbar seien kurzfristige Tätigkeiten im Rahmen von Minijobs mit leichter körperlicher Belastung, idealerweise in wechselnden Körperpositionen (Anlage K 23). Die Psychotherapeutin gelangte zu dem Ergebnis, dass aufgrund vorhandener und nicht reversibler psychischer Beeinträchtigungen für den Zeitraum von 2012 bis 31. Dezember 2016 von einer anhaltenden Erwerbsunfähigkeit des Geschädigten auszugehen sei (Anlage K 24).

14

Damit hat sich das Berufungsgericht medizinische Sachkunde bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten angemaßt, deren Voraussetzungen es den Parteien nicht offengelegt hat. Das Berufungsgericht hätte die Arbeitsfähigkeit im angenommenen Umfang angesichts der von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen – die entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht lediglich „bloße Behauptungen“ der Klägerin, sondern qualifizierten Sachvortrag zur Frage der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten darstellen – nicht bejahen dürfen, ohne sich auf das Gutachten eines hinsichtlich der berührten medizinischen Bereiche fachärztlich qualifizierten Sachverständigen zu stützen. Der gerichtliche Sachverständige wäre dann gegebenenfalls dazu zu befragen gewesen, ob die vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten aus medizinischer Sicht gegen die Annahme sprechen, dass die Arbeitsfähigkeit des Geschädigten aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt ist. Dabei hätte sich das Berufungsgericht auch mit dem von der Beschwerde als übergangen gerügten Vortrag der Klägerin auseinandersetzen müssen, wonach die Vermietung der Ferienwohnung durch den Geschädigten zusammen mit seiner Frau erfolge und daher einen wöchentlichen Zeitaufwand von lediglich zwei Stunden erfordere und die vom Geschädigten geführte Galerie lediglich an Wochenenden geöffnet habe. Der Schluss des Berufungsgerichts von der Ausübung einer geringfügigen Tätigkeit für die Caritas auf eine Arbeitsfähigkeit des Geschädigten „bis zum Umfang einer Vollbeschäftigung“ ist auch ungeachtet der hierfür fehlenden medizinischen Sachkunde auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht nachvollziehbar. Zudem geht das Berufungsgericht dabei – wie von der Beschwerde zutreffend gerügt – nicht auf den Einwand der Klägerin ein, der Geschädigte sei selbst von dieser Tätigkeit körperlich und psychisch überfordert gewesen.

15

c) Sollte auch nach dem Ergebnis der erneuten Verhandlung zur Überzeugung des Berufungsgerichts ein Verstoß des Geschädigten gegen die ihm obliegende Schadensminderungspflicht in Form unzureichender Erwerbsbemühungen feststehen, würde dies, anders als das Berufungsgerichts meint, nicht dazu führen, dass der Anspruch des Geschädigten – und in der Folge der Erstattungsanspruch aus übergegangenem Recht – nicht bezifferbar wäre. Vielmehr sind nach der Rechtsprechung des Senats die erzielbaren (fiktiven) Einkünfte auf den – zunächst unter Beachtung der insoweit beim Anspruchsteller liegenden Darlegungs- und Beweislast festzustellenden – Verdienstausfallschaden anzurechnen. Entsprechend der Darlegungslast hinsichtlich des Obliegenheitsverstoßes an sich ist auch die Höhe der fiktiven Einkünfte bei hinreichenden Erwerbsbemühungen des Geschädigten grundsätzlich vom Schädiger darzulegen (vgl. dazu näher Senatsurteil vom 24. Januar 2023 – VI ZR 152/21, VersR 2023, 519 Rn. 20 f.).

Anmerkung der Redaktion: Zu ähnlichen Fallgestaltungen siehe auch die nachfolgenden Entscheidungen des BGH.