Zur Einholung eines weiteren Gutachtens, wenn ein bereits eingeholtes Erstgutachten mehrere Jahre zurückliegt.
Aus den Gründen
(1–11) I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen voller bzw teilweiser Erwerbsminderung (auch bei Berufsunfähigkeit). …
Mit Urteil vom 24.11.2008 hat das SG die Klage abgewiesen. Mit Urteil vom 15.11.2012 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. …
(12) II. Auf die Beschwerde des Klägers war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
(13) 1. Wie der Kläger formgerecht (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG) und in der Sache zutreffend gerügt hat, ist das seine Berufung zurückweisende Urteil des LSG verfahrensfehlerhaft zu Stande gekommen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das Berufungsgericht hat § 103 SGG dadurch verletzt, dass es einem Beweisantrag des Klägers ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(14) a) Der Kläger hat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 15.11.2012 eine weitere Begutachtung zu seinem Gesundheitszustand und Leistungsvermögen auf orthopädischem Fachgebiet beantragt und auf eine Verschlechterung der von dem Sachverständigen G. in seinem Gutachten vom 5.5.2008 erhobenen Befunde hingewiesen; dies ergebe sich aus dem Arztbrief der MHH – Klinik für Neurochirurgie – vom 1.10.2012.
(15) b) Das LSG hätte sich gedrängt sehen müssen, diesem Beweisantrag nachzugehen. Nach seiner Rechtsauffassung kommt es entscheidend darauf an, wie das Leistungsvermögen des Klägers unter Berücksichtigung der Gesundheitsstörungen auf orthopädischem und neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet zu bewerten ist. Seine Begründung, aufgrund des Berichts der MHH vom 1.10.2012 ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers „nach der letzten Begutachtung verschlechtert“ haben könnte, kann der Senat nicht nachvollziehen. Dies gilt ebenso für die Behauptung des LSG, die neuen Befunde hätten „nach ihrer Darstellung in dem Bericht keine klinische Relevanz“.
(16–17) Zum Zeitpunkt der Entscheidung des LSG am 15.11.2012 lag das noch vom SG eingeholte Gutachten des Orthopäden G. vom 5.5.2008 mehr als viereinhalb Jahre zurück; es beruhte (ua) auf einer ambulanten Untersuchung des Klägers vom 28.4.2008; die röntgenologischen Aufnahmen, auf die sich der Sachverständige bei der Befundung der Lendenwirbelsäule bezog, waren am Untersuchungstag erstellt worden; die sonstigen ausgewerteten Röntgenaufnahmen stammten aus April und September 2007 sowie Januar 2008. …
(18) In dem Arztbrief der MHH vom 1.10.2012 werden nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 27.8.2012 „bei schmerzhafter Inklination, Reklination und Rotation der LWS“ in fachorthopädischer Hinsicht folgende Gesundheitsstörungen aufgeführt: …
(19) Der Arztbrief der MHH vom 1.10.2012 enthält somit weitere, von dem Sachverständigen G. in seinem Gutachten vom 5.5.2008 noch nicht festgestellte (und daher bei seiner sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung nicht berücksichtigte) medizinische Befunde: Insbesondere hat der Sachverständige G. den Zwischenwirbelraum L4/5 noch als „ausreichend weit“ beschrieben, während im Arztbrief der MHH dort eine breitbasige Bandscheibenvorwölbung mit Einengung der Nervenwurzel erwähnt wird.
(20) Außerdem bestand zum Zeitpunkt der Begutachtung durch den Sachverständigen G. Ende April 2008 lediglich eine „leichte Gefühlsstörung im Bereich des rechten Beines“, während sich nach dem Ende August 2012 erhobenen Untersuchungsbefund der MHH beidseits eine „diffuse Hypästhesie der Füße“ zeigte, die nach dem Bericht zum einen durch die bekannte alkoholtoxische Polyneuropathie und zum anderen auch durch eine (allerdings noch abklärungsbedürftige) periphere arterielle Verschlusskrankheit bedingt sein könnte.
(21) Unter diesen Umständen kann sich der Senat dem Ergebnis des LSG nicht anschließen, dass zwischen der Gutachtenerstattung durch den Sachverständigen G. im Mai 2008 und dem Arztbrief der MHH vom Oktober 2012 keine gesundheitliche Verschlechterung festzustellen sei, zumal bei den vom Sachverständigen G. beschriebenen degenerativen Veränderungen insbesondere im Bereich der Lendenwirbelsäule naturgemäß ein weiteres Fortschreiten nicht ausgeschlossen werden kann (im Rahmen der Sachaufklärungsrüge ist das BSG nicht an die Beweiswürdigung des LSG gebunden: s bereits BSG SozR 1500 § 160 Nr 49 unter Aufgabe früherer Rechtsprechung).
(22) Vor diesem Hintergrund war es insbesondere auch mit Blick auf die zum Zeitpunkt der Entscheidung des LSG bereits mehrere Jahre alten medizinischen Sachverständigengutachten im vorliegenden Verfahren geboten, – wie vom Kläger beantragt – eine erneute (aktuelle) Begutachtung seines Gesundheitszustands und Leistungsvermögens (zumindest) auf orthopädischem Fachgebiet einzuholen – und sei es (zunächst) lediglich eine gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage durch den Orthopäden G., ob er angesichts der Befunde der MHH im Arztbrief von Oktober 2012 eine erneute gutachterliche Untersuchung und Beurteilung des klägerischen Restleistungsvermögens für erforderlich hält. Auf dem insoweit verfahrensfehlerhaften Unterlassen weiterer Ermittlungen kann das Berufungsurteil beruhen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass sich aufgrund einer aktuellen Begutachtung in diesem medizinischen Fachgebiet und den sich daraus ergebenden Einschränkungen des klägerischen Leistungsvermögens (in quantitativer und/oder qualitativer Hinsicht) die Notwendigkeit zu einer weiteren medizinischen und/oder berufskundlichen Sachaufklärung ergibt oder dass die Begutachtung bereits ein rentenrelevant gemindertes Leistungsvermögen zum Ergebnis hat und dem Kläger dann – wenn auch nicht schon ab Rentenantragstellung, so doch zu einem späteren Zeitpunkt – ein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI – möglicherweise aber auch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI – zusteht.
(23–28) 2. Sofern der Kläger allerdings eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs mit der Begründung rügt, ...
Eingereicht von P. Becker, Kassel