Leitsatz:
Die Untersuchung einer Person zur Erstellung eines Sachverständigengutachtens entgegen ihrem Willen in ihrer Wohnung verstößt gegen das Grundgesetz.
Aus den Gründen:
(1) Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die im fachgerichtlichen Verfahren bestellte Verfahrenspflegerin gegen die betreuungsgerichtliche Anordnung, die Betroffene - wenn nötig unter Gewaltanwendung - zur Vorbereitung der Erstellung eines Sachverständigengutachtens zur Unterbringungsbedürftigkeit in ihrem Wohnhaus untersuchen zu lassen.
(2) I. 1. Die Beschwerdeführerin ist die gerichtlich bestellte Verfahrenspflegerin der unter Betreuung stehenden Betroffenen.
(3) 2. Mit angegriffenem Beschluss vom 8.2.2018 ordnete das Amtsgericht Soltau (AG) im Betreuungsverfahren an, dass nach persönlicher Untersuchung oder Befragung der Betroffenen ein Sachverständigengutachten zu Fragen der Unterbringungsbedürftigkeit zu erstellen sei, und bestellte für die Erstattung des Gutachtens eine Sachverständige. Als Termin für die Untersuchung der Betroffenen zur Vorbereitung der Gutachtenerstellung wurde der 21.2.2018, 09:30 Uhr, bestimmt. Weiter ordnete das Gericht an, dass die Untersuchung im Haus der Betroffenen stattfinden solle und die Betroffene gegebenenfalls durch die zuständige Betreuungsstelle dorthin vorzuführen sei, um die Untersuchung zu ermöglichen. Bei Widerstand der Betroffenen werde die Betreuungsbehörde ermächtigt, die Wohnung der Betroffenen ohne deren Einwilligung zu betreten und sich gewaltsamen Zugang zu verschaffen.
(4–7) … Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, die das Verfahren als Verfahrenspflegerin der Betroffenen in eigenem Namen führt, eine Verletzung des Grundrechts der Betroffenen aus Art. 13 Abs. 1 GG. Die Anordnung verstoße gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung. Eine Untersuchung der Betroffenen bei ihr zu Hause sei nicht angezeigt. Eine erhebliche Gefahr, die ein gewaltsames Betreten der Wohnung rechtfertige, bestehe nicht …
(8) IV. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Dies ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Betroffenen aus Art. 13 Abs. 1 GG angezeigt (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das BVerfG bereits entschieden worden. Demnach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
(9–15) 1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig …
(16) 2. Der angegriffene Beschluss des AG vom 8. Februar 2018 verletzt die Betroffene in ihrem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG.
(17) a) Die von den Fachgerichten getroffenen tatsächlichen Feststellungen und die von ihnen im Einzelnen vorgenommene Abwägung hat das BVerfG nicht nachzuprüfen (BVerfGK 16, 142 <145>). Ebenso ist es grundsätzlich den Fachgerichten überlassen, welchen verfahrensrechtlichen Weg sie wählen, um zu den für ihre Entscheidung notwendigen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. BVerfGE 79, 51 <62>). Der verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt jedoch, ob fachgerichtliche Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>).
(18) b) Die Unverletzlichkeit der Wohnung hat einen engen Bezug zur Menschenwürde und steht zugleich im nahen Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Gebot unbedingter Achtung einer Sphäre des Bürgers für eine ausschließlich private – eine „höchstpersönliche“ – Entfaltung. Dem Einzelnen soll das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, gerade in seinen Wohnräumen gesichert sein (vgl. BVerfGE 75, 318 <328>; 109, 279 <313>; siehe auch BVerfGE 51, 97 <110>). Art. 13 Abs. 1 GG schützt die räumliche Privatsphäre insbesondere in Gestalt eines Abwehrrechts (vgl. BVerfGE 7, 230 <238>; 65, 1 <40>). Die Norm enthält das an Träger der öffentlichen Gewalt gerichtete grundsätzliche Verbot, gegen den Willen des Wohnungsinhabers in die Wohnung einzudringen und darin zu verweilen (vgl. BVerfGE 76, 83 <89 f.>). Schon im Zeitpunkt der Schaffung des Grundgesetzes diente das Grundrecht des Art. 13 Abs. 1 GG dem Schutz des Wohnungsinhabers vor unerwünschter physischer Anwesenheit eines Vertreters der Staatsgewalt (vgl. BVerfGE 109, 279 <309>).
(19) Der Begriff der Wohnung im Sinne des Art. 13 GG ist dabei weit zu verstehen (vgl. BVerfGE 32, 54 <68 ff.>). Das Grundrecht normiert für die öffentliche Gewalt ein grundsätzliches Verbot des Eindringens in die Wohnung oder des Verweilens darin gegen den Willen des Wohnungsinhabers (vgl. BVerfGE 65, 1 <40>). Mit der durch Art. 13 Abs. 1 GG garantierten Unverletzlichkeit der Wohnung wird dem Einzelnen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet. In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu werden (BVerfGK 16, 142 <145>).
(20) Die Unverletzlichkeit der Wohnung wird in Art. 13 Abs. 7 GG weiter dadurch gesichert, dass „Eingriffe und Beschränkungen“, die nicht „Durchsuchungen“ sind, nur unter ganz bestimmten, genau umschriebenen Voraussetzungen vorgenommen werden dürfen. Bei Wohnräumen im engeren Sinn entspricht diese strenge Begrenzung der zulässigen Eingriffe dem grundsätzlichen Gebot unbedingter Achtung der Privatsphäre des Bürgers (vgl. BVerfGE 32, 54 <73>).
(21) c) Unter Berücksichtigung der vorgenannten Maßstäbe hält der angegriffene Beschluss des AG einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Art. 13 Abs. 7 GG fordert für Eingriffe und Beschränkungen, die nicht von Art. 13 Abs. 2 bis 5 GG erfasst sind, eine spezielle gesetzliche Ermächtigungsgrundlage, es sei denn, sie dienen der Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, welche vorliegend nicht ersichtlich ist und von der auch das Amtsgericht in dem angegriffenen Beschluss nicht ausgegangen ist.
(22) Eine Ermächtigungsgrundlage für die Begutachtung der Betroffenen in ihrer Wohnung gegen ihren Willen kann insbesondere nicht in § 322 FamFG in Verbindung mit § 283 FamFG gesehen werden: Wirkt der Betroffene an einer Begutachtung nicht mit, so kann das Gericht gemäß § 283 Abs. 1 und 3 FamFG zwar seine Vorführung anordnen und gegebenenfalls die Befugnis aussprechen, die Wohnung des Betroffenen zu betreten. Letztere Maßnahme dient jedoch allein dem Ziel, die Person des Betroffenen aufzufinden, um ihn der Untersuchung zuzuführen (vgl. BGH, Beschluss vom 17.10.2012 – XII ZB 181/12 –, juris, Rn. 18 m.w.N.; Kretz, in: Jürgens, Betreuungsrecht, 5. Aufl. 2014, § 283 FamFG Rn. 4; ebenso BTDrucks 16/6308, S. 420). Die Vorschrift bietet weder eine Rechtsgrundlage dafür, den Betroffenen gegen seinen Willen in seiner Wohnung anzuhören, noch ihn dort durch den Sachverständigen untersuchen zu lassen (vgl. BGH, a.a.O.).
(23 f.) …
Redaktionell überarbeitete Fassung, eingereicht von P. Becker, Kassel