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Die faktische Kraft des Normativen – Anmerkungen zu LG Krefeld, Urteil vom 21. Juli 2021 – 2 O 170/191

Die Schwierigkeiten in der Umsetzung der Bemühungen um Qualitätsverbesserung medizinischer Gutachten in die forensische Wirklichkeit illustriert ein Urteil des Landgerichts Krefeld zur privaten Unfallversicherung.

Die dort betroffene Klägerin zog sich infolge eines privaten Skiunfalls eine Sprunggelenkfraktur rechts nebst Tibia­fraktur mit Kniegelenkbeteiligung links zu. Die Verletzung des rechten Fußes heilte in 25 Grad Innendrehstellung, die des linken Knies mit einer drittgradigen Arthrose aus. Die Beklagte bemaß nach einem ersten Gutachten beide Unfallfolgen mit jeweils 3/20 Beinwert und berief sich dabei auf das Werk „Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane“ von Schiltenwolf, Hollo und Gaidzik2.

Die Klägerin gab ihrerseits ein Privatgutachten in Auftrag, welches als Unfallfolgen ein hinkendes, schmerzhaftes Gangbild rechts bei Fehlstellung des rechten Fußes, eine Bewegungsminderung durch Verplumpung und Arthrose des gleichseitigen Sprunggelenks, ferner eine Muskelumfangsminderung des linken Oberschenkels um 2 cm bei Beugehemmung im linken Kniegelenk um 20 Grad infolge einer unfallbedingten Arthrose III. Grades sowie Veränderungen der Wirbelsäule, Durchblutungsstörungen und eine Störung der Balancehaltung auswies. Im Ergebnis gelangte dieses Gutachten rechts zu 6/20 und links zu 4/20, worauf sich dann auch die erhobene Klage stützte. Im Rahmen der Beweisaufnahme holte das Landgericht ein weiteres Gutachten ein. Hierin bestätigte der Sachverständige die Gebrauchsbeeinträchtigung beider Beine mit jeweils 3/20 Beinwert. Dem schloss sich das Gericht nach nochmaliger Anhörung des Sachverständigen nur teilweise an.

Grundsätzlich hätten in die Bemessung Funktionsbeeinträchtigungen und nicht Strukturveränderungen einzufließen, also insbesondere das hinkende Gangbild und die Schmerzen im linken Knie. Verplumpung und Bewegungseinschränkung des rechten Sprunggelenks, Beugeeinschränkung des linken Knies sowie Beinlängendifferenz und Wirbelsäulenveränderungen seien dagegen Nebenfolgen. Die Wirbelsäulenbeschwerden seien schon deshalb nicht berücksichtigungsfähig, weil sie zum maßgeblichen Stichtag (noch) nicht vorlagen und auch nicht vorhersehbar waren. Hiervon ausgehend seien die Unfallfolgen im linken Bein mit 3/20 korrekt, die im rechten Beines jedoch mit 8/20 Beinwert deutlich höher zu bemessen, da bei der Klägerin die Gehfähigkeit infolge der schmerzhaften Arthrose doch deutlich stärker beeinträchtigt sei. In dem vom Sachverständigen in Bezug genommenen Begutachtungswerk, aber auch in der sonstigen medizinischen Gutachtenliteratur, werde die Kniearthrose nicht ausreichend berücksichtigt, da nur „indirekte Schmerzzeichen“ über Muskelminderung und Minderbeschwielung in die Bemessung und auch nur mit maximal 2/20 Beinwert eingestellt würden. Ein Schmerzempfinden, „das bei bestimmten Beeinträchtigungen von den meisten Menschen gezeigt werde“, dürfe aber nicht außer Acht gelassen werden. Die Klägerin könne „längere Wegstrecken ohne Pausen oder gar beschwerdefrei nicht zurücklegen“, und die Schmerzen seien, so auch der Sachverständige, aufgrund der Arthrose „plausibel“ mit maximal 2/20 Beinwert nur unzureichend abgebildet. Wenn längere Wegstrecken gänzlich unmöglich und kürzere Strecken etwa in der Wohnung nur unter Schmerzen möglich seien, beträfe das die meisten Alltagsverrichtungen, was mit einem fast hälftigen Funktionsverlust einhergehe. Dem stünden auch nicht die Wertungen des Sachverständigen entgegen, der sich bei der Bemessung mit 3/20 Beinwert auf besagtes Werk gestützt habe, welches zwar „für eine Arthrose III. Grades einen solchen Wert ausweise“, die Bewertung von Arthroseschmerzen (und wohl auch die Bewertung von Schmerzen insgesamt) erfolge „dort jedoch grundsätzlich fehlerhaft und damit sei auch die hierauf gestützte sachverständige Bewertung unzureichend.“

Das Urteil wirft grundsätzliche Fragen der Begutachtung sowie der Umsetzung medizinisch konsentierter Empfehlungen durch die Gerichte auf. Anders als in den Feldern des Sozialrechts, wo es für die Einstufung gesundheitlicher Beeinträchtigungen entweder einen verbindlichen normativen Rahmen (Versorgungsmedizin-Verordnung) gibt oder wo aufgrund der rechtlichen Bezüge (Schutzzweck, allgemeiner Arbeitsmarkt) die medizinischen Wertungen in den Tabellenwerken ohnehin nur Vorschlagscharakter besitzen können, geben die AUB außerhalb der Gliedertaxe explizit, aber letztlich auch innerhalb der Gliedertaxe vor, dass die Bemessung von Invalidität bzw. Gebrauchsbeeinträchtigung ausschließlich nach medizinischen Gesichtspunkten zu erfolgen hat.

Von diesem auch vom Landgericht ausdrücklich akzeptierten Grundsatz ausgehend ist es Aufgabe des Sachverständigen, unter Beachtung der geltenden Beweismaßstäbe Vorhandensein und Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen zu objektivieren und – bei Anwendbarkeit der Gliedertaxe – in die Minderung der Gebrauchsfähigkeit der betroffenen Extremität / des Sinnesorgans umzusetzen. Dabei war schon im Rechtsstreit unstrittig, dass die Sprunggelenkverletzung rechts in einer schweren Fehlstellung und arthrotischen Veränderungen im Bereich des oberen Sprunggelenks ausheilte (250 Innendrehung sowie Beinverkürzung). Die durch die Drehfehlstellung und Verkürzung die Gesamtstatik mit Beeinträchtigung der Steh- und Gehfunktion des rechten Beines ist ebenso nachvollziehbar als Unfallfolge einzuordnen wie die zum Bemessungszeitpunkt unstreitige drittgradige Arthrose des linken Kniegelenks mit leichter Einschränkung der Kniebeugung (minus 20o).

Allerdings sind die Funktionsminderungen des rechten Beines deutlich ausgeprägter als die des linken. Hier sind wesentliche belastungsmindernde Unfallfolgen gesichert, die aber in dem gutachtlich gebilligten Beinwert von nur 3/10 eine vergleichsweise geringe Berücksichtigung fanden. Dagegen liegt der durch das Gericht erkannte Beinwert für die Kniearthrose links nur wenig unter dem Wert einer Knievollversteifung (10/20 Beinwert), obwohl die festgestellte Einschränkung der Beugefähigkeit viele Alltagsfunktionen des Knies zulässt, die bei Vollversteifung nur unter großem Aufwand oder gar nicht möglich wären (Treppensteigen, Schuhe binden, Strümpfe an- und ausziehen, Radfahren). Aus medizinischer Sicht ist sonach die durch das Landgericht vorgenommene Bemessung in sich widersprüchlich, da sich die stärkeren Funktionsdefizite des rechten Beins auf die in der Urteilsbegründung in den Vordergrund gerückte Beeinträchtigung der Gehfähigkeit deutlich stärker ausgewirkt haben dürften und nichts dafür erkennbar ist, dass die arthrotischen Veränderungen des oberen Sprunggelenks mit objektivierbaren Reizungen des umgebenden Weichteilgewebes weniger schmerzhaft gewesen sein könnten, als die geklagten Beschwerden infolge der linksseitigen Gonarthrose.

Der Vorwurf, die Literaturempfehlungen erfassten nur „indirekte Schmerzzeichen“ verkennt darüber hinaus elementare Grundsätze der Begutachtung. Schmerzen als subjektives Erleben sind stets subjektiv, damit nicht unmittelbar messbar und ipso facto nur indirekt objektivierbar. Es kommt hinzu, dass bildgebende Befunde arthrotischer Veränderungen in ihren Auswirkungen auf die Gebrauchsfähigkeit von Gelenk und Ex­tremität einer erheblichen interindividuellen Varianz unterliegen. Daher kommt der Begriff der Arthrose als solcher in den Bemessungsempfehlungen auch gar nicht vor, folglich gibt es auch keinen Wert von „nur“ 2/20 für die drittgradige Kniearthrose, lediglich der Aufschlag von 1/20 für die Oberschenkelverschmächtigung ist aus der Literatur herleitbar.

In rechtlicher Hinsicht muss erstaunen, dass die bloße „Plausibilität“ für das Landgericht ausreichte, und nach Maßgabe des hier einschlägigen Maßstabs des § 287 ZPO ausreichte, um als bewiesen zu unterstellen, dass bei der festgestellten drittgradigen Arthrose der Klägerin jegliche Aktivität im Stehen und Gehen nahezu unmöglich seien. Wie weit die Klägerin gehen kann, ob es zu Schwellungen kommt, ob die Klägerin Rad fahren kann, wird im Urteil im Einzelnen nicht dargestellt, geschweige denn durch entsprechende aktenkundige Befunde belegt. Die Konkretisierung der durch die Arthrose „plausibel“ begründeten Funktionsstörungen fehlt also. Dennoch bemisst das Gericht die Invalidität mit einem Wert wenig unterhalb jedem der Vollversteifung, also um 5/20 bzw. 4/20 oberhalb der Vorschläge der beiden ärztlichen Sachverständigen, offenbar ohne das daraus resultierende Missverhältnis zur funktionell bedeutsameren Beeinträchtigung auf der Gegenseite zu erörtern. Auch lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, für welche Aktivitätsstörungen ein Beinwert von 7/20 oder 6/20 angenommen werden soll, also nach welcher Graduierung von Versicherten gemachte Aktivitätsstörungen reliable und vergleichbare Invaliditätsklassen von 1/20 bis 20/20 Beinwert bemessen lassen.

Zusammenfassend hat sich das Landgericht über die Bemessung zweier bzw. dreier Gutachter hinweggesetzt, indem man die (insgesamt wenig konkretisierten) im (subjektiven) Schmerzerleben begründeten Aktivitätsstörungen der Klägerin zur Bemessung herangezogen hat. Gleichzeitig hat man aber über den Einzelfall hinaus die aktuelle Bemessungssystematik im medizinischen Fachschrifttum zu „arthrosebedingten Schmerzen“ und zum Schmerzerleben insgesamt grundsätzlich als „unzulänglich“ eingestuft. Eine derartige Fundamentalkritik wirft indes über den Einzelfall hinaus noch weitreichendere Fragen auf: Wenn die AUB die Bemessung der allgemeinen körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit bzw. der Gebrauchs(un)fähigkeit von Extremitäten und – soweit in der Gliedertaxe aufgeführt – Sinnesorganen ausdrücklich und ausschließlich an medizinische Gesichtspunkte bindet, auf welcher Kompetenzbasis können Gerichte dann eigene Beurteilungskriterien an die Stelle „standardisierter medizinischer Übereinkünfte“ setzen, ohne den Anspruch der Versicherten auf Gleichbehandlung und damit letztlich auch die Rechtssicherheit zu gefährden? Und noch allgemeiner: Wo verläuft die Grenze zwischen der notwendigen Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung einerseits und dem bekanntlich unzulässigen „Verstoß gegen Denkgesetze“, wenn es zwar nicht um medizinisch-naturwissenschaftliche Erfahrungssätze im eigentlichen Sinn, aber immerhin um allein medizinisch geprägte Bewertungskriterien und -systeme geht?

Den gerade in den letzten Jahren verstärkt zu beobachtenden Bemühungen von Fachgesellschaften, im Interesse der Qualitätssicherung/-verbesserung die ärztliche Begutachtung im fachlichen Diskurs mit validen und reliablen „Leitplanken“ zu versehen, sind solche Einzelfallentscheidungen jedenfalls abträglich.

Anschrift für die Autoren:

Prof.Dr. M.Schiltenwolf,
Universitätsklinikum Heidelberg
Zentrum für Orthopädie,
Unfallchirurgie und Paraplegiologie I,
Schlierbacher Landstr. 200a
69118 Heidelberg

Prof.Dr. P.W. Gaidzik,
Universität Witten / Herdecke,
Institut für Medizinrecht,
Alfred-Herrhausen-Str. 50,
58448 Witten