LS: Bei der Vergütung eines medizinischen Sachverständigen ist eine elektrophysiologische Untersuchung zu bejahen, wenn elektrische Potentiale technisch abgeleitet werden und dabei zum Beispiel auch elektromechanische Aktivitäten von Sinneszellen untersucht werden.
Nutzen Untersuchungen dagegen ein willentlich gesteuertes Verhalten des Untersuchten (hier: Tonschwellen- und Sprachaudiogramm), liegt keine elektrophysiologische Untersuchung vor.
Aus den Gründen:
(1) Die Beteiligten streiten über die Abrechnung technischer (HNO-ärztlicher) Leistungen nach der GOÄ (Gebührenordnung für Ärzte), insbesondere über den Begriff „elektrophysiologische Untersuchung eines Menschen“ in Abschnitt 3 Nr. 305 der Anlage 2 zu § 10 Abs. 1 JVEG.
(2) Zu Recht gehen die Beteiligten im Ergebnis davon aus, dass erbrachte GOÄ-Leistungen nur dann neben dem Honorar nach §§ 8, 9 JVEG abgerechnet werden können, wenn die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 oder 2 JVEG erfüllt sind. Dabei hält der Senat aus Gründen der Abrechnungspraktikabilität daran fest, dass die Gebührenrahmen der Anlage 2 zu § 10 Abs. 1 JVEG durch die Werte der GOÄ als Leitlinien ausgefüllt werden können, ohne dass eine rechtliche Bindung besteht (z. B. Binz/Dörndorfer/Petzold/Zimmermann, GKG – JVEG, Anlage 2 zu § 10 JVEG Rn.1 m.w.N.).
(3–4) Im Rahmen der Begutachtung hat der Sachverständige – ein HNO-Arzt – folgende GOÄ-Ziffern erbracht: 1403 – Tonschwellenaudiogramm, 1404 – Sprachaudiogramm, 1407 – Impedanzaudiometrie, 1409 – DPOAE bds., 1409 – TEOAE bds., 1412 – Experiment Prüfung des Gleichgewichts, 1413 – Kopfimpulstest, 1415 – Binokularmikroskopie des Trommelfells, 1418 – Endoskopie Nase (NRR), 1530 – Lupenlaryngoskopie.
(5) Im Verwaltungswege sind diese Ziffern nicht vergütet worden, auch nicht nach Zeit (§§ 8, 9 JVEG), da davon ausgegangen wurde, dass die technischen Leistungen während der angegebenen Zeitspanne der vergüteten körperlichen Untersuchung erbracht wurden, so dass eine erneute Berücksichtigung nach Zeit eine Doppelvergütung dargestellt hätte.
(6) Auf den Antrag auf richterliche Festsetzung waren lediglich die Nrn. 1407, 1409, 1413 als „elektrophysiologische Untersuchung eines Menschen“ nach Nr. 305 der Anlage 2 zu § 10 Abs. 1 JVEG zu vergüten. Die genannten restlichen Ziffern erfüllen die Definition nicht; dass sie nicht zum Abschnitt O der GOÄ i. S. des § 10 Abs. 2 JVEG zählen ist ohnehin zu Recht unstreitig. Eine Vergütung nach Zeit konnte deshalb nicht erfolgen, da der Antragsteller trotz mehrfachen Hinweises des Senats nicht angegeben hat, welche Zeit neben der vergüteten körperlichen Untersuchung aufgewandt wurde ...
(7) Anspruchsgrundlage für die abgerechneten technischen Leistungen nach der GOÄ kann von vornherein nur die Nr. 305 der Anlage 2 zu § 10 Abs. 1 JVEG sein. Danach ist eine elektrophysiologische Untersuchung eines Menschen abrechenbar. Was unter diesem Begriff zu verstehen ist, ist vornehmlich aus der medizinischen Fachliteratur abzuleiten. Danach befasst sich die Elektrophysiologie als Teilgebiet der Physiologie mit der elektrischen Aktivität von Herz, Muskeln, Nerven und Sinnesorganen und bedient sich der Elektrodiagnostik (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 260. Auflage, Stichwort: Elektrophysiologie). Insbesondere befasst sie sich als Teil der Neurophysiologie auch mit der elektromechanischen Signalübertragung im Nervensystem von Lebewesen (vgl. z. B. Schmidt/Lang/Thews, Physiologie des Menschen, Springer Verlag, 29. Auflage). Bei entsprechenden Untersuchungen geht es demgemäß um die technische Ableitung bestimmter elektrischer Potentiale. Eine bestimmte Form der Ableitung schreibt die Nr. 305 der Anlage 2 dagegen nicht vor. Der Begriff der Untersuchung umfasst daher alle technisch möglichen Verfahren zur Ableitung elektrophysiologischer Potentiale, er ist nicht auf bestimmte Verfahren beschränkt. Für eine solche Beschränkung gibt der Wortlaut der Nr. 305 keinen Anhalt.
(8) Nach dieser Definition sind die Nummern 1403, 1404, 1412, 1415, 1418 und 1530 keine technischen Verfahren zur Ableitung elektrophysiologischer Potentiale.
(9) Beim Tonschwellenaudiogramm (1403) drückt der Proband auf einen Signalknopf, sobald er das über den Kopfhörer übertragene Signal wahrnimmt. Beim Sprachaudiogramm (1404) geht es um das Verstehen von Wörtern oder Silben. Die Verfahren leiten keine elektrischen Signale ab, sondern nutzen als Erkenntnisquelle das willentlich gesteuerte Verhalten des Probanden selbst. Experimente zur Prüfung des Gleichgewichts (1412), die Binokularmikroskopie des Trommelfells (1415), die Endoskopie der Nase (1418) und die Lupenlaryngoskopie (1530) erfüllen die oben gegebene Definition ebenfalls nicht.
(10) Allerdings kann die Impedanzaudiometrie (1407) nach den Erkenntnissen des Senats als elektrophysiologische Untersuchung abgerechnet werden. Denn bei dieser Untersuchung geht es um die Messung des Widerstands des Trommelfells und der Stapediusreflexe. Dabei wird letztlich die elektrophysiologische Antwort des Nervus Stapedius auf ein akustisches Signal hin über Veränderungen des Trommelfells gemessen. Wie bereits ausgeführt, schreibt der Begriff Untersuchung keine bestimmte Form der Ableitung elektrophysiologischer Signale vor.
(11) Bei der Messung otoakustischer Emissionen i. S. der Ziffer 1409 handelt es sich ebenfalls um elektrophysiologische Untersuchungen i. S. der Nr. 305. Dabei werden die durch einen akustischen Reiz ausgelösten elektrophysiologischen Antworten der äußeren Haarzellen des Innenohres registriert, was eine Aussage über die Leistung des Hörorgans unabhängig von der Mitwirkung des Probanden erlaubt. Damit werden im Ergebnis elektromechanische Aktivitäten von Sinneszellen, hier der äußeren Haarzellen des Hörorgans, abgeleitet.
(12) Damit folgt der Senat der Auffassung des Antragstellers, dass es bei der Ableitung otoakustischer Emmissionen und der Messung von Nervenreflexen ebenso wie bei der Messung von Hirnströmen (z. B. EEG als klassischer Abrechnungsfall der Nr. 305) um die elektrophysiologischen Antworten von Nerven- bzw. Sinneszellen auf Reize und Signale geht. Unterschiedlich ist dabei nur die Art der Ableitung, die mit dem Begriff der Untersuchung gerade nicht vorgeschrieben ist.
(13–16) Danach sind zu erstatten …
Redaktionell überarbeitete Fassung, eingereicht von P. Becker, Kassel