Leitsatz:
Sachverständige erhalten als Vergütung für erhöhten Hygieneaufwand aus Anlass der Covid-19 Pandemie zeitlich befristet den 1-fachen Satz der Nr 245 GOÄ.
Aus den Gründen:
I.
Streitig ist die Vergütung eines Gutachtens nach dem JVEG, wobei nur noch die Vergütung für den geltend gemachten erhöhten Hygieneaufwand in Höhe von 7,63 € brutto im Streit steht. … Für die Erstellung seines Gutachtens vom 29.05.2020 aufgrund einer ambulanten Untersuchung hat der Antragsteller mit Schreiben vom 29.05.2020 zunächst einen Betrag von 1.475,24 € geltend gemacht. Darin enthalten sind neben der Gutachtenpauschale laut Vertrag in Höhe von 1.150,00 €, Transportkosten in Höhe von 6,00 €, Schreibgebühren in Höhe von 23,40 € und Laborkosten in Höhe von 9,00 € sowie 51,30 €. Mit Schreiben vom 03.08.2020 wurde der geltend gemachte Betrag um die Kosten eines erhöhten Hygieneaufwands durch die Covid-19 Pandemie entsprechend Nr. 245 der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) um 6,41 € nebst darauf entfallender Umsatzsteuer (1,22 €) erhöht.
Die Kostenbeamtin des LSG zahlte den ursprünglich geltend gemachten Betrag aus (1.475,24 €). Für den geltend gemachten Hygienezuschlag sehe das JVEG keine Erstattung vor. Mit Schreiben vom 13.08.2020 beantragte der Antragsteller richterliche Festsetzung. ...
In einer Stellungnahme des Antragsgegners vom 11.09.2020 vertrat dieser die Ansicht, das JVEG sehe zwar keine pauschalierte Vergütung vor, jedoch sei bei Bezifferung der angefallenen Kosten der über den üblichen Aufwand hinausgehende Betrag auf Antrag erstattungsfähig. …
II.
…
Der Antrag auf richterliche Festsetzung der Entschädigung ist nach § 4 Abs. 1 S. 1 JVEG zulässig und in der Sache begründet. Die dem Antragsteller zu gewährende Entschädigung ist auf 1.482,87 € festzusetzen. Die Entscheidung der Kostenbeamtin war entsprechend abzuändern. Die anteilige Vergütung für den erhöhten Hygieneaufwand war hierbei antragsgemäß auf 6,41 € netto (zzgl. Umsatzsteuer von 1,22 €) festzusetzen.
Anspruchsgrundlage für den Vergütungsanspruch des Antragstellers ist neben dem JVEG die zwischen dem Land Rheinland-Pfalz und dem Sachverständigen nach § 14 JVEG getroffene Vereinbarung über die Entschädigung von Sachverständigenleistungen. …
Nach Ziffer I der Vereinbarung erhält der Antragsteller für jedes vom LSG Rheinland-Pfalz in Auftrag gegebene und von ihm erstattete schriftliche Gutachten nach ambulanter oder stationärer Untersuchung ohne Rücksicht auf dessen Umfang und den Zeitaufwand als Entschädigung einen Grundbetrag in Höhe von 1.150,00 €. Mit diesem Grundbetrag ist der erforderliche Zeitaufwand abgegolten für die vorbereitenden Arbeiten einschließlich der Durchsicht der Akten und des Literaturstudiums, die Erhebung der Vorgeschichte, die körperliche Untersuchung, die Auswertung, Beurteilung und Zusammenfassung aller für die Beantwortung des Beweisthemas erheblichen Fremdbefunde (z B. Beurteilung fremder Röntgenaufnahmen), die Abfassung, das Diktat und die Korrektur des Gutachtens und eine Fotodokumentation (Ziffer II der Vereinbarung). Mit dem Grundbetrag wird folglich lediglich Zeitaufwand abgegolten. Daneben kann der Antragsteller seinen Aufwand für Transport, Porto und Verpackung pauschal in Höhe von 6,00 € abrechnen (Ziffer IV der Vereinbarung). Weitere, vorliegend relevante Vergütungsregelungen enthält die getroffene Vereinbarung nicht. Hinsichtlich sämtlicher weiterer in Betracht kommender Vergütungsbestandteile ist auf die Regelungen des JVEG zurückzugreifen. Dies ergibt sich explizit aus Ziffer VI der Vereinbarung, in der es heißt: „Im Übrigen wird die Vergütung nach den gesetzlichen Bestimmungen festgesetzt“.
Neben dem in der Vereinbarung geregelten Grundbetrag und der Transportpauschale können nach den insoweit maßgebenden Regelungen des JVEG unstreitig auch die nachfolgend aufgeführten Vergütungsbestandteile abgerechnet werden, die dem Antragsteller bereits erstattet worden sind: …
Die vom Antragsteller geltend gemachten Aufwendungen für einen erhöhten Hygieneaufwand sind zusätzlich als „notwendige besondere Kosten“ im Sinne des § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG zu ersetzen. Gemäß § 12 Abs. 1 S. 1 JVEG sind mit der Vergütung nach den §§ 9 bis 11 JVEG auch die üblichen Gemeinkosten sowie der mit der Erstattung des Gutachtens oder der Übersetzung üblicherweise verbundene Aufwand abgegolten, soweit im Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Nach § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG werden die für die Vorbereitung und Erstattung des Gutachtens aufgewendeten notwendigen besonderen Kosten, einschließlich der insoweit notwendigen Aufwendungen für Hilfskräfte sowie die für eine Untersuchung verbrauchten Stoffe und Werkzeuge gesondert ersetzt.
§ 12 Abs. 1 JVEG bezweckt eine möglichst vollständige Abgeltung aller dort genannten im Einzelfall anfallenden Nebenkosten des Sachverständigen, soweit dieser sie tatsächlich gehabt hat (Weber, in: Hartmann/Toissant, Kostenrecht, 50. Auflage 2020, § 12 JVEG, Rn. 4). Die Regelung des § 12 Abs. 1 S. 1 JVEG gilt nur „soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist“. Mit dem Wort „einschließlich“ in § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG wird verdeutlicht, dass die dort genannten Fallgruppen, zu denen die „verbrauchten Stoffe und Werkzeuge“ gehören, nicht abschließend zu verstehen sind, so dass die Regelung weit, d.h. im Sinne einer Auffangklausel, zu verstehen ist.
Das Gesetz definiert den Begriff der Gemeinkosten gemäß § 12 Abs. 1 S. 1 JVEG nicht. Nach der amtlichen Begründung der gesetzlichen Regelung des § 12 JVEG gehören zu den üblichen Gemeinkosten insbesondere die Aufwendungen des Sachverständigen für Alterssicherung und Krankheitsvorsorge und die mit dem allgemeinen Bürobetrieb verbundenen Kosten sowie die Aufwendungen, die sich aus einer angemessenen Ausstattung mit technischen Geräten und fachbezogener Literatur ergeben (BT-Drs 15/1971, 184). Zu diesen Kosten sind daher insbesondere die Miete und Nebenkosten für die Büro- und Arbeitsräume, Heizung-, Strom- und Wasserkosten, Telefongrundgebühren und die Kosten für eine angemessene Ausstattung mit notwendiger Technik und Literatur zu rechnen. Diese sollen bereits im Stundensatz des Sachverständigen und Dolmetschers oder im Übersetzungshonorar berücksichtigt sein (Schneider, JVEG, 3. Aufl. 2018, § 12, Rn.2).
Hygieneverbrauchsmittel fallen zwar typischerweise unter die üblichen Gemeinkosten. Seit Auftreten der Covid-19 Pandemie sind aber umfangreichere Hygienemaßnahmen erforderlich, wie z. B. Handdesinfektion beim Betreten der Räume, umfassende Maskenpflicht für das gesamte Praxispersonal, zusätzliche Maßnahmen der Flächendesinfektion. Diese zusätzlichen Maßnahmen sind ausschließlich durch die Pandemie veranlasst und dienen speziell deren Eindämmung. Nach Ende der Pandemie und damit dem Wegfall der besonderen Gefahrenlage werden diese zusätzlichen Maßnahmen und die dadurch verursachten Aufwendungen voraussichtlich wieder entfallen. Ein neuer allgemeingültiger erhöhter Hygienestandard wird daher nicht etabliert. Allein der Umstand, dass alle Begutachtungen während der Pandemie erhöhten Aufwand erfordern, macht diesen nicht zu einem neuen „üblichen Gemeinbedarf“. „Besondere Kosten“ im Sinne von § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG sind zur Überzeugung des Senats nicht zwingend nur die in einem besonderen Einzelfall entstandenen Kosten. Ein Einzelfallbezug erscheint dann nicht erforderlich und eine Erstattungsfähigkeit gleichwohl möglich, wenn – wie vorliegend – eine besondere Situation wie eine Pandemie einen unüblichen Aufwand erfordert, der in einer Vielzahl von Einzelfällen situationsbedingt zwingend anfällt.
Hinsichtlich der Frage, ob die vom Antragsteller aufgeführten Hygieneverbrauchsmittel – zu denen zwar auch, aber nicht ausschließlich – Desinfektionsmittel zählen, zu den üblichen Gemeinkosten zu rechnen sind, ist daher eine differenzierte Betrachtung angezeigt. Zwar ist es zutreffend, dass Hygienemittel zu den Stoffen und Werkzeugen zählen, die der Antragsteller in seiner Praxis auch ohne aktuelle Pandemie vorhält und benutzt (vgl. Sozialgericht Mainz vom 17.09.2020 – S 2 R 250/19, Rn. 15). Allerdings gehören zum einen nicht sämtliche Hygieneverbrauchsmittel „in jedem Falle“ zu den Stoffen und Werkzeugen, die ein Sachverständiger in seiner Praxis „auch ohne aktuelle Pandemie“ vorhält und benutzt, da beispielsweise FFP2 Masken und Spuck-Gesichtsmasken nicht ausnahmslos in jedem Falle in jeder ärztlichen Praxis ungeachtet der Pandemie vorgehalten werden. Zum anderen ist ein pandemiebedingter Mehrverbrauch von Desinfektionsmitteln gegeben. Dass in Zeiten der COVID-19 Pandemie einem beauftragten Sachverständigen mit unmittelbarem Arzt-Patienten-Kontakt, d.h. bei angeordneter persönlicher ambulanter oder stationärer Untersuchung, ein erhöhter Hygieneaufwand anfällt, steht für den Senat damit auch ohne entsprechende detaillierte Darlegungen außer Zweifel. Sachverständige, die Gutachten für die Gerichte erstatten, müssen ihre Aufgaben unter Beachtung der für Ärzte geltenden und in Pandemiezeiten entsprechend erhöhten Hygienestandards erfüllen.
Da andere Bestimmungen des JVEG (§§ 5 bis 7, 8 bis 11 JVEG) keinen Ersatz für besondere (hier: durch die Covid-19 Pandemie bedingte) erhöhte Aufwendungen für Hygiene vorsehen, können grundsätzlich auch pandemiebedingte notwendige besondere Aufwendungen in Abgrenzung zu den „üblichen“ Gemeinkosten unter § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG fallen.
Über § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG ist das hier erkennbar vorrangig geltend gemachte Hygieneverbrauchsmaterial abrechnungsfähig, wenn es, wie vorliegend, pandemiebedingt ist und deshalb seiner Art nach in Praxen entweder bisher nicht vorgehalten wurde oder es vorgehalten wurde, die Verbrauchskosten jedoch die bisher üblichen Aufwendungen übersteigen, sofern die Aufwendungen notwendig waren. Über die Notwendigkeit entscheidet der Sachverständige unter Berücksichtigung des Auftragsinhalts nach pflichtgemäßem Ermessen (vgl. Binz, in: Binz/Dornhöfer/Zimmermann, GKG/FamGKG/
JVEG, 4. Auflage 2019, § 12 JVEG Rn 3), welches nur in diesen Grenzen überprüfbar ist (Weber, in: Hartmann/Toissant, a.a.O., Rn 2). Kosten sind insoweit nicht zu entschädigen, als sie überflüssig waren (Binz, a.a.O.). Zu diesen Kosten gehören nicht die Kosten für die geltend gemachten Werkzeuge (Luftreinigungsgerät und berührungsloses Fieberthermometer). Deren Berücksichtigung steht bereits entgegen, dass das Gesetz nach seinem Wortlaut für die Erstattung ausdrücklich einen „Verbrauch“ verlangt, was einen erheblichen Substanzverlust, eine erhebliche Wertminderung oder eine Beeinträchtigung der Brauchbarkeit voraussetzt (vgl. Schneider, a.a.O. Rn. 33).
Was die Höhe des dem Antragsteller in Zeiten der Covid-19 Pandemie zuzubilligenden Kostenersatzes angeht, finden sich Kriterien zur Konkretisierung der notwendigen besonderen Kosten im JVEG nicht. Die mit dem Antragsteller getroffene Vereinbarung regelt dies ebenfalls nicht. Der Begriff der „notwendigen besonderen Kosten“ unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der vollen gerichtlichen Kontrolle; im Ausnahmefall können diese Kosten auch pauschaliert oder geschätzt werden (Bleutge, in: BeckOK, Kostenrecht, Dörndorfer/Nelle/Wendtland/Gerlach, 31. Auflage, § 12 JVEG, Rn. 8 unter Verweis auf LSG Hessen vom 30.06.2014 – L 2 R 106/13 B). Einen solchen Ausnahmefall, in dem eine Pauschalierungs-/Schätzungsbefugnis besteht, sieht der Senat im vorliegenden Fall als gegeben an. Es würde einen unverhältnismäßig hohen Ermittlungsaufwand erfordern, wenn in jedem einzelnen Abrechnungsfall von den beteiligten Kostenstellen verlangt würde, zeit- und kostenaufwendige Ermittlungen zu Kleinstbeträgen im einstelligen Eurobereich oder darunter für verbrauchte Hygienestoffe anzustellen. Vorliegend wären dies entsprechende Ermittlungen zu Ausgaben für beispielsweise FFP2 Masken, Überziehschuhe, Einmalhandschuhe, Flächendesinfektionsmittel, Händedesinfektionsmittel, chirurgische OP-Hauben und Spuck-Gesichtsmasken, deren Kosten in Zeiten der Pandemie stark variieren. Diese Feststellungen würde die Prüfung der Notwendigkeit im Sinne des § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG mit der im Einzelfall schwierigen tatsächlichen Abgrenzung zu üblichen Gemeinkosten und der Berücksichtigung des pflichtgemäßen und nur in diesen Grenzen überprüfbaren Ermessens beinhalten. Dazu kommt noch, dass dem Sachverständigen umfassende Dokumentationspflichten über sein Hygieneverbrauchsmaterial abverlangt werden würden. Es ist zur Überzeugung des Senats nicht angemessen, vom Sachverständigen einen zeit- und kostenaufwändigen Einzelnachweis der gutachtenbezogenen zusätzlichen Hygieneaufwendungen und damit eine konkrete Bezifferung der Kosten für die jeweilige Untersuchung zu verlangen. Dies würde die Anforderungen an die Darlegungspflichten des Sachverständigen überspannen, die bei lebenspraktischer Sicht an ihn gestellt werden können. Zur Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs „notwendige besondere Kosten“ im Sinne des § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG ist daher zur Überzeugung des Senats auf einen pauschalierenden Ansatz zurückzugreifen und in entsprechender Anwendung des § 287 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls eine Schätzung vorzunehmen (so auch LSG Hessen vom 30.06.2014, a.a.O., Rn. 51; LG Hamburg vom 16.11.2018 – 306 S 49/17, Rn. 28).
Im Rahmen dieses Ansatzes zieht der Senat zur Bestimmung der konkreten Höhe jener Kosten im Sinne des § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG die Nr. 245 GOÄ im Wege einer pauschalierten Schätzung in Höhe von 6,41 € (1-facher Satz) netto heran, die in einer Gemeinsamen Analogabrechnungsempfehlung von der BÄK, dem Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV-Verband) und den Beihilfekostenträgern des Bundes und der Länder für die Erfüllung aufwändiger Hygienemaßnahmen im Rahmen der Covid-19 Pandemie pro Sitzung bei unmittelbarem Arzt-Patienten-Kontakt als berechnungsfähig angesehen wird.
Den Ansatz jener Pauschale, die die bislang geforderte einzelfallbezogene Konkretisierung der Höhe der Kosten und die Vorlage der Nachweise entbehrlich macht und ersetzt, hält der Senat sowohl aus Praktikabilitätserwägungen als auch aus Gründen einer möglichst landesweiten Vereinheitlichung von Maßstäben für zweckmäßig. Über eigene Erfahrungswerte bei der Bestimmung der konkreten Höhe der besonderen Kosten für die Erfüllung erhöhter Hygienemaßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie im Sinne des § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG verfügt der Senat nicht, weshalb er sich diese zu eigen macht.
Der Senat hält es auch für sachgerecht, sich hinsichtlich des Geltungszeitraums der pauschalierten Schätzung an der Laufzeit jener Abrechnungsempfehlungen zu orientieren. Die ursprüngliche Abrechnungsempfehlung, die initial bis zum 30.06.2020 befristet war, sollte nach der Verlängerung zum 30.09.2020 zunächst auslaufen. Aufgrund der Entwicklung des aktuellen Infektionsgeschehens wird die Regelung nach Nr. 245 GOÄ analog (zum 1-fachen Satz) in Höhe von 6,41 € netto vorerst bis zum Jahresende (31.12.2020) fortgeführt.
Hinweis: Genau gegenteilig aber ohne konkrete Begründung: LSG Baden-Württemberg vom 12.11.2020 – L 10KO 3421/20
Redaktionell überarbeitete Fassung,
eingereicht von P. Becker, Kassel