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LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 28.8.2018 — L 11 R 183/18 BSchlagwörter: Gutachten § 109 SGG — Kostenübernahme — maßgeblicher Zeitpunkt

Leitsatz:

Hinsichtlich der Übernahme der Kosten eines Gutachtens nach § 109 SGG auf die Staatskasse kommt es nicht darauf an, ob der Rechtsstreit vor dem Antrag auf Einholung des Gutachtens anders entschieden worden wäre, maßgeblich ist vielmehr der Zeitpunkt der Beendigung des Hauptsacheverfahrens.

Aus den Gründen:

I. Der Kläger begehrte von der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland (im Folgenden: Beklagte) in dem zwischenzeitlich erledigten Klageverfahren vor dem Sozialgericht Magdeburg (SG) die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Das SG hat zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers und anschließend ein Gutachten des Dr. med. B. vom 26. November 2013 gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholt, welches dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Verfügung vom 9. Januar 2014 zur Kenntnisnahme übersandt worden ist. Der Gutachter Dr. med. B. hat das Vorliegen einer quantitativen Leistungseinschränkung des Klägers verneint. Das SG hat den Kläger und den Beklagten mit weiterer Verfügung vom 9. Januar 2014 zu einem Termin zur mündlichen Verhandlung am 27. Januar 2014 geladen.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 20. Januar 2014 hat der Kläger die Einholung eines Gutachtens des Dr. med. W. nach § 109 SGG beantragt. Das SG hat daraufhin den Termin zur mündlichen Verhandlung aufgehoben und nach Einzahlung des gerichtlich angeforderten Kostenvorschuss in Höhe von 1.500 EUR durch den Kläger mit Beweisanordnung vom 27. Mai 2014 Dr. med. W. mit der Erstattung des Gutachtens gemäß § 109 SGG beauftragt. Dr. med. W. hat das Gutachten am 13. Februar 2015 nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 20. November 2014 erstattet und darin das Vorliegen einer quantitativen Leistungseinschränkung seit ca. 18 Monaten bejaht. In der vor dem SG durchgeführten mündlichen Verhandlung vom 4. Mai 2015 haben der Kläger und die Beklagte auf Vorschlag des Gerichts einen Vergleich dergestalt geschlossen, dass die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 1. Juni 2015 bis 31. Mai 2018 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit, ausgehend von einem Leistungsfall im November 2014, gewährt. Im Übrigen haben sie den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 22. März 2017 hat der Kläger die Übernahme der Sachverständigenkosten für das Gutachten des Dr. med. W. auf die Staatskasse beantragt.

Mit Beschluss vom 13. April 2018 hat das SG den Antrag abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Das Verfahren habe mit sachgerechtem Vergleich geendet, in dem die Beteiligten vom Eintritt der Erwerbsminderung im November 2014 (Untersuchungszeitpunkt anlässlich des Gutachtens nach § 109 SGG) ausgegangen seien. Die Klage wäre ohne das Gutachten nach § 109 SGG im Januar 2014 abgewiesen worden. An diesem Ergebnis habe sich für die Zeit bis Januar 2014 durch das Gutachten nach § 109 SGG nichts geändert.

Gegen den seinem Prozessbevollmächtigten am 19. April 2018 zugestellten Beschluss hat der Kläger am 17. Mai 2018 Beschwerde zum Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (LSG) eingelegt …

II. Die nach § 173 SGG form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist nach § 172 Abs. 1 SGG statthaft.

Die Beschwerde ist auch begründet. Die Kosten für das gemäß § 109 SGG eingeholte Gutachten des Dr. med. W. sind in voller Höhe auf die Staatskasse zu übernehmen.

Nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG muss auf Antrag des Versicherten ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann – wie dies im vorliegenden Fall auch erfolgt ist – gemäß § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten dafür vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts auch endgültig trägt. Eine „andere Entscheidung“ in diesem Sinne hat der Beschwerdeführer beim SG beantragt. Das SG trifft die Entscheidung über die Kostenübernahme auf die Staatskasse nach Ermessen durch Beschluss, wobei es diese Entscheidung auf Antrag zu treffen hat, aber auch von Amts wegen entscheiden kann (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 12. Auflage, 2017, § 109, Rn. 16). Bei der Entscheidung hat es zu berücksichtigen, ob das nach § 109 SGG eingeholte Gutachten objektiv zur weiteren Sachaufklärung beigetragen und die Erledigung des Rechtsstreites gefördert hat (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.o., Rn. 16a). Dies ist in der Regel der Fall, wenn das Gutachten Einfluss auf den weiteren Verlauf des Verfahrens nimmt, etwa zu einer Beendigung ohne Urteil führt oder Grundlage der Entscheidung des Gerichts wird. So hat das Gutachten in der Regel auch die Sachaufklärung gefördert, wenn wegen des Gutachtens ein Anerkenntnis abgegeben oder ein Vergleich geschlossen worden ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.o., Rn. 16a). Diese Grundsätze hat auch das Beschwerdegericht zu beachten. Im Beschwerdeverfahren kann die Entscheidung des SG voll überprüft werden und das Beschwerdegericht darf eine eigenständige Ermessenentscheidung treffen, weil im Rahmen der Beschwerdeentscheidung die Befugnis zur Ausübung des Ermessens in vollem Umfang auf das Beschwerdegericht übergegangen ist (vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 24. Oktober 2008 – L 6 SB 4170/08 KO-B – und Bayerisches LSG, Beschluss vom 3. November 2014 – L 15 SB 173/14 B, Rn. 17, m.w.N. – zitiert nach juris).

Unter Abwägung aller Gesichtspunkte erscheint es sachgerecht, die Kosten des Gutachtens von Dr. med. W. vom 13. Februar 2015 in vollem Umfang auf die Staatskasse zu übernehmen. Denn das Gutachten hat die weitere Sachaufklärung gefördert. Die Beteiligten haben aufgrund dessen in der mündlichen Verhandlung vom 4. Mai 2018 auf Vorschlag des Gerichts den genannten Vergleich geschlossen und im Übrigen den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Die Argumentation des SG, das Gutachten nach § 109 SGG habe den Prozessausgang nicht geändert, widerspricht somit schon dem tatsächlichen Prozessverlauf. Es kommt für die Frage der Übernahme der Kosten auf die Staatskasse auch nicht darauf an, ob der Rechtsstreit vor dem Antrag des Klägers auf Einholung eines Gutachtens des Dr. med. W. anders entschieden worden wäre. Maßgeblich bei der Entscheidung über die Kostenübernahme ist der Zeitpunkt der Beendigung des Hauptsacheverfahrens (vgl. hierzu auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 13. August 2013 – L 15 SB 153/13 B, Rn. 14, m.w.N. – zitiert nach juris). Ohne den Abschluss des Vergleichs hätte das SG das Gutachten bei seiner Entscheidung mit berücksichtigen müssen. Denn hinsichtlich einer – wie hier streitgegenständlichen – Anfechtungs- und Leistungsklage ist auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz abzustellen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.o., § 54, Rn. 34). Das Abstellen auf den Zeitpunkt der erstmalig angesetzten mündlichen Verhandlung wäre demgegenüber nur für die Frage entscheidend gewesen, ob der Antrag des Klägers auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 Abs. 2 SGG hätte abgelehnt werden dürfen, weil durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert worden wäre und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Das SG hat den Antrag des Klägers auf Einholung eines Gutachtens des Dr. med. W. jedoch nicht entsprechend § 109 Abs. 2 SGG abgelehnt, sondern ist dem Antrag vielmehr mit der Beweisanordnung vom 27. Mai 2014 nachgekommen.

Die Kostenentscheidung …

Redaktionell überarbeitete Fassung, eingereicht von P. Becker, Kassel