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Th. Stähler, M. Schian

Rechtsprechungsüberblick: “Gutachten“ im sozial- und arbeits-/ dienstrechtlichen Kontext

    Die Tätigkeit des sozialmedizinischen Sachverständigen ist immer auch in rechtliche Kontexte eingebettet. Mit dem Ziel, diese zu verdeutlichen, werden nachfolgend ausgewählte Kernaussagen aus der einschlägigen Rechtsprechung in systematisierter Form wiedergegeben. Hierbei abgebildet, mitunter noch redaktionell angepasst, werden vornehmlich höchst- und obergerichtliche Entscheidungen mit den Leit- und Orientierungssätzen sowie teilweise prägnanten Passagen aus den Entscheidungsgründen der (nach JURIS) zitierten Urteile und Beschlüsse.

    Gutachten: Begrifflichkeit und Inhalt, Abgrenzungen

    (1) In zwei Entscheidungen aus den Jahren 2008 und 2013 [1] hat das Bundessozialgericht (BSG) ausgeführt, dass – dem allgemeinen Sprachverständnis folgend – unter den im Gesetz selber nicht definierten Begriff des Gutachtens nicht jedwede Äußerung oder Stellungnahme eines medizinischen oder technischen Sachverständigen zu einzelnen Aspekten des Verfahrensgegenstandes falle. Vielmehr falle darunter nur die umfassende wissenschaftliche Bearbeitung einer im konkreten Fall relevanten fachlichen Fragestellung durch den Sachverständigen. Ein Gutachten liege nur vor, wenn die Beantwortung der Fragen durch einen externen Sachverständigen, d. h. durch eine Person erfolge, die – so im entschiedenen Fall – dem Unfallversicherungsträger nicht angehöre und mit diesem auch keinen Dienst – oder Beratungsvertrag abgeschlossen habe. Das BSG führt des Weiteren aus, dass es sich dann um ein Gutachten handele, wenn die schriftliche Äußerung des Sachverständigen vornehmlich eine eigenständige Bewertung der verfahrensentscheidenden Tatsachenfragen, z. B. des umstrittenen Ursachenzusammenhangs, enthalte. Um lediglich eine beratende Stellungnahme handele es sich demgegenüber dann, wenn sich die schriftliche Äußerung des Sachverständigen im Wesentlichen mit dem eingeholten Gerichtsgutachten auseinandersetze, insbesondere im Hinblick auf dessen Schlüssigkeit, Überzeugungskraft und Beurteilungsgrundlage.

    (2) Schon in einer früheren Entscheidung [2] hatte das BSG klargestellt, dass eine ärztliche Stellungnahme nur dann ein Gutachten sei, wenn darin – jedenfalls summarisch – die erhobenen Befunde wiedergegeben werden und sich der Arzt – soweit es sich um ein sozialmedizinisches Gutachten handelt – zu den nach seiner Auffassung durch die festgestellten Gesundheitsstörungen bedingten Leistungseinschränkungen und ihrer voraussichtlichen Dauer äußert. Das Gutachten habe alle medizinischen Gesichtspunkte zu enthalten, die die Beurteilung zulassen, ob eine Erwerbsminderung anzunehmen ist oder nicht.

    (3) Aufschlussreich sind darüber hinaus die Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg, das in einer Entscheidung aus dem letzten Jahr [3] im unfallversicherungsrechtlichen Kontext dargelegt hat, dass die nach § 200 Abs. 2 SGB VII gebotene Abgrenzung von Gutachten und beratungsärztlicher Stellungnahme ein Abstellen auf eine Kombination äußerer und innerer Faktoren verlange. Inhaltlich liege ein Gutachten nur dann vor, wenn vornehmlich eine eigenständige Bewertung der verfahrensentscheidenden Tatsachen im Sinne einer eigenen Beweiserhebung erfolge und dies die ärztliche Äußerung präge; während eine beratende Stellungnahme sich im Wesentlichen mit einem aktenkundigen (Vor-)gutachten im Sinne einer Beweiswürdigung auseinandersetze. Erweise sich eine getroffene gutachterliche Aussage wie in einer Beweiswürdigung folgerichtig nur als Ergebnis einer kritischen Auseinandersetzung mit dem zu besprechenden Gutachten, handele es sich nicht um ein Gutachten. Weiter rechtfertigten eigenständige Überlegungen, die ohne Anknüpfung an Vorgutachten oder an die Aktenlage eingeführt werden, die Annahme eines Gutachtens auch dann nicht, wenn auf diese Überlegungen keine gutachterlichen Schlussfolgerungen gestützt werden.

    (4) Aus der Zivilrechtsprechung ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) aus dem Jahr 1999 [4] bedeutsam, in der betont wird, dass die Bildung relevanter Hypothesen von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung sei. Sie stelle nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. So hänge beispielsweise die Auswahl der für die Begutachtung in Frage kommenden Test- und Untersuchungsverfahren davon ab, welche Möglichkeiten als Erklärung für eine – unterstellt – unwahre Aussage in Betracht zu ziehen seien (sog. hypothesengeleitete Diagnostik). Zu berücksichtigen seien allerdings nicht alle denkbaren, sondern nur die im konkreten Fall nach dem Stand der Ermittlungen realistisch erscheinenden Erklärungsmöglichkeiten [5].

    (5) Aus der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist in vorliegendem Kontext eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) aus 2014 [6] zu beachten. In dieser hat das Gericht herausgestellt, dass sich der (notwendige) Inhalt des zu erstellenden Gutachtens nach seinem Zweck richte. Ein im Zurruhesetzungsverfahren (§ 47 Bundesbeamtengesetz – BBG) verwendetes amtsärztliches Gutachten müsse nicht nur das Untersuchungsergebnis mitteilen, sondern auch die das Ergebnis tragenden Feststellungen und Gründe, soweit deren Kenntnis für die Behörde unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Entscheidung über die Zurruhesetzung erforderlich sei (§ 48 Abs. 2 BBG).

    (6) Anknüpfungspunkte ergeben sich schließlich auch im arbeitsrechtlichen Zusammenhang:

    So hat zum einen das Arbeitsgericht (ArbG) Brandenburg in einer Entscheidung aus dem Jahr 2014 [7] festgestellt, dass eine amtsärztliche Stellungnahme, die zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses wegen voller Erwerbsminderung führt, dem Arbeitgeber die Entscheidung darüber ermöglichen solle, ob der Arbeitnehmer zur Erfüllung seiner Arbeitspflichten dauerhaft unfähig ist bzw. ggf. anderweitig verwendet werden kann. Sie dürfe sich nicht auf die bloße Mitteilung einer Diagnose und eines Entscheidungsvorschlags beschränken, sondern müsse die für die Meinungsbildung des Amtsarztes wesentlichen Entscheidungsgrundlagen erkennen lassen.

    Ebenfalls in einer Entscheidung aus dem Jahr 2014 [8] hat der 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Inanspruchnahme des Sachverstands eines Betriebsarztes dargelegt, dass diese der Klärung dienen könne, ob vom Arbeitsplatz Gefahren für die Gesundheit des Arbeitnehmers ausgehen und künftig durch geeignete Maßnahmen vermieden werden können. Die Inanspruchnahme des betriebsärztlichen Sachverstands stehe einem BEM (Betriebliches Eingliederungsmanagement gem. § 84 Abs. 2 SGB IX) als Ganzem aber nicht gleich.

    Anforderungen an die Erstellung des Sachverständigengutachtens, Qualifikation des Gutachters

    (1) Wesentlich sind insoweit Aussagen genereller Art in zwei landessozialgerichtlichen Entscheidungen:

    Zum einen hat das LSG Bayern in einer Entscheidung aus dem Jahr 2012 [9] festgehalten, dass der Teil der Beurteilung und Beantwortung der Beweisfragen die wesentliche geistige Leistung des Sachverständigen enthalte und den Kernbereich des Gutachtens darstelle. Zum anderen hat das LSG Sachsen-Anhalt [10] betont, dass der gerichtliche Sachverständige in der Wahl seiner Untersuchungsmethode zur Befunderhebung bzw. Diagnostik frei sei.

    (2) Nähere Ausführungen zu den Anforderungen an die Erstellung des Sachverständigengutachtens und die Qualifikation des Gutachters finden sich in mehreren Entscheidungen des Bundessozialgerichts:

    Soweit sich nicht aus der Eigenart des Gutachtenthemas ergebe – so das BSG 2014 [11] – , dass für bestimmte Untersuchungen die spezielle Sachkunde und Erfahrung des Sachverständigen benötigt werde und/oder es auf seinen persönlichen Eindruck während der gesamten Untersuchung ankomme, reiche es aus, wenn der Sachverständige die von Hilfskräften erhobenen Daten und Befunde nachvollziehe oder sich auf andere Weise einen persönlichen Eindruck verschaffe. Entscheidend sei, dass der Sachverständige die Schlussfolgerungen seines Mitarbeiters überprüfe und durch seine Unterschrift die volle Verantwortung für das Gutachten übernehme. (hier: Bezug auf § 407a Abs. 2 ZPO)

    Auch hat das BSG in einer Entscheidung aus 2013 [12] erneut betont, dass – nach seiner zu § 407a Abs. 2 ZPO ergangenen Rechtsprechung – der Sachverständige die zentralen Aufgaben der Begutachtung selbst erbringen müsse. Inwieweit die Durchführung der persönlichen Untersuchung des Probanden zum sog. unverzichtbaren Kern der vom Sachverständigen selbst zu erfüllenden Zentralaufgaben zähle, hänge von der Art der Untersuchung ab. Je stärker die Untersuchung auf objektivierbare und dokumentierbare organmedizinische Befunde bezogen sei, umso eher sei der Einsatz von Mitarbeitern möglich. Der unverzichtbare Kern sei in jedem Falle betroffen, wenn sich der Sachverständige überhaupt nicht persönlich mit der zu begutachtenden Person befasse.

    Zur Qualifikation eines Gutachters hat das BSG bereits 2003 [13] ausgeführt, dass es hierfür nicht darauf ankomme, ob er von Haus aus als Internist, Rheumatologe, Orthopäde, Neurologe oder Psychiater tätig sei. Das BSG ist damit der Meinung der Vorinstanz im entschiedenen Fall entgegengetreten. Zu meinen, dass das Gutachten im entschiedenen Fall deshalb keinen Anlass zur weiteren Sachaufklärung gebe, weil die Gutachterin als Internistin und Rheumatologin fachfremd geurteilt habe und die Beurteilung von Schmerzzuständen vorwiegend in die Kompetenz des Nervenarztes falle, sei objektiv unzutreffend. Denn – wie hier – Rheumatologen könnten durchaus über die erforderlichen „fachübergreifenden“ Erfahrungen hinsichtlich der Diagnostik und Beurteilung von Schmerzstörungen (z. B. der Fibromyalgie) verfügen.

    (3) In vorbezeichnete Richtung ging auch schon die Entscheidung des LSG Hessen aus dem Jahr 2002 [14], nach der es keiner weiteren Zusatzbegutachtung auf psychosomatischem Fachgebiet bedürfe, wenn ein Neurologe, der auch zur psychotherapeutischen Behandlung zugelassen sei, ein nervenfachärztliches Gutachten erstatte. Dies gelte vor allem dann, wenn das Gutachten eine breite psychosomatische Befunderhebung und -beurteilung enthalte.

    Vergütungsfragen

    Zu Fragen der Vergütung des Sachverständigen sind nachfolgende Entscheidungen mehrerer Landessozialgerichte bedeutsam, aus denen auch hervorgeht, in welche Richtung gehend im jeweiligen örtlichen Zuständigkeitsbereich entschieden wird:

    (1) So ist nach einem Beschluss des LSG Sachsen-Anhalt aus 2010 [15] bei der Entschädigung nach JVEG (Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz) der erforderliche Zeitaufwand zu vergüten, den ein Sachverständiger mit durchschnittlichen Fähigkeiten und Kenntnissen benötigt, um die Beweisfragen vollständig und sachgemäß zu beantworten. Auf die individuelle Arbeitsweise des Sachverständigen sei hingegen nicht abzustellen.

    (2) In einer aktuellen Entscheidung hat das LSG Schleswig-Holstein [16] ausgeführt, dass eine dem medizinischen Sachverständigen objektiv zustehende Vergütung den gem. § 109 SGG (Sozialgerichtsgesetz) eingezahlten Vorschuss erheblich überschreite, wenn die Überschreitung mindestens 20 % des Vorschusses betrage. Für die Erheblichkeit der Überschreitung komme es darauf an, was dem medizinischen Sachverständigen als Vergütung objektiv zustehen würde; nicht darauf, was er als Vergütung geltend gemacht habe.

    (3) In einer Entscheidung aus dem Jahr 2009 [17] hat das LSG Bayern zunächst darauf hingewiesen, dass die Sozialgerichte gem. § 106 Abs. 3 Nr. 2 SGG berechtigt seien, unter anderem Röntgenbilder beizuziehen. Seien insoweit mikroverfilmte oder digitalisierte Röntgenaufnahmen zu reproduzieren, erfolge kostenrechtlich hierfür grundsätzlich eine Entschädigung in entsprechender Anwendung des Tarifes der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG-NT) in der jeweils maßgeblichen Fassung. Offengelassen werden könne, ob in Einzelfällen eine höhere Entschädigung als übliche Vergütung angesehen werden könne.

    (4) Der Sachverständige sei – so das LSG in einer späteren Entscheidung [18] – beweispflichtig dafür, dass die Rechnung für das von ihm erstellte Gutachten innerhalb der Dreimonats-Frist des § 2 Abs. 1 Satz 1 JVEG bei Gericht eingegangen sei. Der Rechnungseingang müsse im Vollbeweis nachgewiesen sein.

    Beteiligung und Datenschutz

    Fragen der Beteiligung weiterer Personen und des Datenschutzes werden hier wegen des Sachzusammenhanges zusammen abgehandelt.

    (1) So hat für das sozialgerichtliche Verfahren das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in 2011 [19] entschieden, dass bei einer gerichtlich veranlassten Untersuchung durch einen medizinischen Sachverständigen der – vorliegend – Rentenbewerber grundsätzlich keinen Anspruch auf die Zulassung einer Teilnahme von Angehörigen habe.

    (2) Anders hat für das zivilgerichtliche Verfahren das Oberlandesgericht (OLG) Hamm [20] die Fragestellung beurteilt, in dem es entschieden hat, dass einem medizinisch oder psychologisch zu begutachtenden Beteiligten bei einem Untersuchungstermin bzw. Explorationsgespräch des Sachverständigen die Anwesenheit einer Begleitperson ohne Äußerungs- bzw. Beteiligungsrecht zu gestatten sei.

    (3) Zur Frage des Datenschutzes ist zunächst die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) aus dem Jahr 2014 [21] zu zitieren, nach der es sich bei ärztlichen Gutachten in dienstrechtlichen Angelegenheiten um besondere personenbezogene Daten im Sinne von §§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 1 und Abs. 9 BDSG (Bundesdatenschutzgesetz) handelt.

    (4) Wie vom BSG 2008 entschieden [22], gelten das gegenüber dem Unfallversicherungsträger bestehende Gutachterauswahlrecht des Versicherten und die Pflicht des Unfallversicherungsträgers, auf das Widerspruchsrecht des Versicherten gegen die Übermittlung seiner Sozialdaten hinzuweisen, auch im Gerichtsverfahren. Verstöße gegen das Widerspruchsrecht gem. § 200 Abs. 2 Halbs. 2 SGB VII können laut BSG nur dadurch geheilt werden, dass das entsprechende Gutachten aus den Akten entfernt werde, weil anderenfalls die Rechtsverletzung und der Verstoß gegen das auf Art 1, 2 GG beruhende Recht auf informationelle Selbstbestimmung perpetuiert würden.

    (5) In einer anderen Entscheidung aus dem Jahr 2004 [23] hat das BSG dargelegt, dass – vorliegend – die Krankenkasse unter dem Gesichtspunkt des Sozialdatenschutzes nicht gehindert sei, eine Leistung mangels Mitwirkung zu versagen, wenn der Versicherte die Überprüfung seines Leistungsantrags nur durch einen von ihm gewählten Gutachter zulasse.

    Inhaltliche (gerichtliche) Verwertung und Würdigung von Sachverständigengutachten

    (1) Zur Frage der Verwertbarkeit eines Sachverständigengutachtens hat sich das LSG Nordrhein-Westfalen in einer Entscheidung aus dem Jahr 2008 [24] grundlegend wie folgt geäußert: „Ein in der gesetzlichen Unfallversicherung zu einer Zusammenhangsfrage erstelltes medizinisches Sachverständigengutachten ist dann uneingeschränkt verwertbar, wenn es in sich schlüssig, widerspruchsfrei und nachvollziehbar begründet ist und die Einschätzung des Sachverständigen mit den unfallmedizinischen Erfahrungswerten übereinstimmt.“

    Auch liegen zur Fragestellung mehrere Entscheidungen des Bundessozialgerichts vor:

    (2) So hat unlängst das BSG [25] festgehalten, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung die Verletzung von Denkgesetzen oder allgemeiner Erfahrungssätze voraussetze [26]. Es gehöre gerade zu den Kernaufgaben der juristischen Bewertung medizinischer Unterlagen im Hinblick darauf, ob diese wegen Widersprüchen, logischer Brüche, nicht fundierter Aussagen oder ähnlicher Mängel nicht zu überzeugen vermögen [27].

    (3) In zwei Entscheidungen aus 2014 [28] und 2015 [29] hat das BSG zum einen ausgeführt, dass je mehr Aussagen von Sachverständigen oder sachverständigen Zeugen zum Beweisthema bereits vorlägen, desto genauer der Beweisantragsteller auf mögliche Unterschiede und Differenzierungen eingehen müsse. Lägen bereits mehrere Gutachten zum Gesundheitszustand und – daraus herleitend – zum verbliebenen Leistungsvermögen vor und habe sich dadurch schon ein gewisses Leistungsbild manifestiert, bedürfe es besonderer Angaben, weshalb die Einholung eines weiteren Gutachtens erforderlich sei. Das BSG hat zum Weiteren ausgeführt, dass in den Fällen, in denen bereits mehrere Gutachten oder fachkundige Angaben vorliegen, das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet sei, wenn die vorhandenen Gutachten oder fachkundigen Angaben grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthielten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben würden [30].

    (4) Nach ständiger Rechtsprechung des BSG [31] gibt es keinen allgemeinen Anspruch auf Überprüfung eines Sachverständigengutachtens durch ein sogenanntes Obergutachten. Vielmehr sei es – so das BSG – Aufgabe des Tatsachengerichts, sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit einander entgegenstehenden Gutachtenergebnissen auseinanderzusetzen. Halte das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, dürfe es sich diesem grundsätzlich anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einholen zu müssen.

    (5) In einer weiteren Entscheidung aus dem Jahr 2003 [32] hat das BSG festgestellt, dass die Würdigung unterschiedlicher Gutachten zur Beweiswürdigung gehöre, auf die eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden könne.

    (6) Zur Geltung eines Beweisverwertungsverbotes hat das BSG im Jahr 2008 [33] entschieden, dass ein – wie vorliegend – vom Unfallversicherungsträger im Laufe eines Gerichtsverfahrens eingeholtes Gutachten einem solchen Verbot unterliege, wenn gegen die Hinweispflicht (betr. das Widerspruchsrecht gem. §  200 Abs. 2 Halbs. 2 SGB VII) verstoßen worden sei.

    (7) Ferner hat sich zur Frage der Mangelhaftigkeit eines Gutachtens das BSG in 2015 [34] in der Weise geäußert, dass jedenfalls allein aus der Tatsache, dass ein Sachverständiger in seinem Gutachten eine bekannte Gesundheitsstörung zwar gelistet, daraus aber keine Funktionsbeeinträchtigung abgeleitet habe, sich nicht ohne Weiteres ein erheblicher Mangel des Gutachtens ergebe.

    (8) Eine andere Entscheidung des BSG aus 2015 [35] betraf die – vom Gericht letztlich verneinte – Frage der Verbindlichkeit von Sachverständigengutachten, die von einem privaten Unternehmen der Krankenversicherung zur Ermittlung des Pflegebedarfs in der privaten Pflegeversicherung in Auftrag gegeben werden, für die Sozialgerichte. Ein solches Gutachten sei aber – so das BSG – grundsätzlich gleichwertig neben dem vom Sozialgericht eingeholten Gutachten und entsprechend seiner Überzeugungskraft uneingeschränkt verwertbar.

    Verfahrensfragen und -grundsätze

    (1) In einer Entscheidung bereits aus dem Jahr 1999 [36] hat der Bundesgerichtshof (BGH) den Grundsatz betont, dass es in erster Linie dem Sachverständigen überlassen sei, in welcher Art und Weise er sein Gutachten dem Gericht unterbreite. Dieser Grundsatz stehe aber unter dem bedeutsamen Vorbehalt der Nachvollziehbarkeit und Transparenz der Begutachtung. Dies bedeute einerseits, dass die diagnostischen Schlussfolgerungen vom Sachverständigen nach Möglichkeit für alle Verfahrensbeteiligten nachvollziehbar, namentlich durch Benennung und Beschreibung der Anknüpfungs- und Befundtatsachen, dargestellt werden müssten. Andererseits müsse durch die Beteiligten – zumindest aber durch andere Sachverständige – überprüfbar sein, auf welchem Weg der Sachverständige zu den von ihm gefundenen Ergebnissen gelangt sei.

    Der BGH hat ferner klargestellt, dass es einer ins Einzelne gehenden Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der erfolgten Begutachtung in den Urteilsgründen regelmäßig nicht bedürfe. Vielmehr reiche aus, dass die diesbezüglichen Ausführungen die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weise enthalten, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich seien.

    (2) In einer späteren Entscheidung [37] hat der BGH betont, dass Mangel an Sachkunde, Unzulänglichkeiten oder Fehlerhaftigkeit ein Gutachten zwar entwerten mögen, für sich allein aber nicht die Ablehnung des Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit rechtfertigten. Zur Frage der Ablehnung eines Sachverständigen hat der BGH des Weiteren ausgeführt, dass diese dann erfolge, wenn ein Grund vorliege, der geeignet sei, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Eine Befürchtung fehlender Unparteilichkeit könne – so das BSG weiter – berechtigt sein, wenn der Sachverständige seine gutachterlichen Äußerungen in einer Weise gestalte, dass sie als Ausdruck einer unsachlichen Grundhaltung gegenüber einer Partei gedeutet werden können. Ergebe sich der Ablehnungsgrund aus dem Inhalt des schriftlichen Gutachtens, müsse der Partei eine angemessene Zeit zur Überlegung und zur Einholung von rechtlichem Rat zur Verfügung stehen.

    (3) In einem verwaltungsgerichtlichen Streitverfahren zur Frage der Befangenheit hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) 2014 [38] entschieden, dass ein aus der Sicht eines Beteiligten fehlerhafter Beweisbeschluss nicht die Annahme der Befangenheit des solchermaßen beauftragten Sachverständigen begründen könne.

    (4) Hinsichtlich weiterer Aspekte des Umgangs mit Sachverständigengutachten im gerichtlichen Verfahren sind schließlich noch drei Entscheidungen des BSG von Relevanz:

    So hat das BSG im Jahr 2014 [39] beschlossen, dass ein Tatsachengericht in den Fällen, in denen es nicht anderweitig Klarheit über die Verwertbarkeit eines Sachverständigengutachtens erzielen wolle, den Sachverständigen auf Antrag des Betroffenen zur Erläuterung des Umfangs seiner Mitwirkung am Gutachten zur mündlichen Verhandlung laden müsse.

    Ein Verfahrensfehler wegen Verletzung des § 103 SGG könne – so das BSG in einer weiteren Entscheidung aus 2011 [40] – dann vorliegen, wenn der zuständige Rehabilitationsträger ein beantragtes Sachverständigengutachten nicht eingeholt habe zum Beweis dafür, dass eine bestimmte gesundheitliche Situation eines schwerbehinderten Menschen mit Auswirkungen auf die Tätigkeit im bereits erlernten Beruf und auf eine Tätigkeit als Fachkraft (hier: für Lagerlogistik) gegeben sei, für die (bezogen auf letztere) die beantragte Förderung einer erneuten beruflichen Ausbildung bzw. einer beruflichen Weiterbildung abgelehnt worden war.

    Die letzte hier ausgewählte Entscheidung des BSG aus dem Jahr 2010 [41] betrifft den verfahrensrechtlichen Aspekt der Rügeobliegenheit. Danach muss ein Versicherter, der meint, dass nicht der von ihm gewählte Arzt das Gutachten erstellt, dem – vorliegend – Unfallversicherungsträger unverzüglich mitteilen, dass er sein Auswahlrecht verletzt sieht.

    Literatur

    1BSG, Urt. v. 11.04.2013 – B 2 U 34/11 R – und Urt. v. 05.02.2008 – B 2 U 8/07 R

    2BSG, Urt. v. 07.08.1991 – 1/3 RK 26/90

    3LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 23.10. 2015 – L 8 U 1012/14

    4BGH, Urt. v. 30.07.1999 – 1 StR 618/98

    5Vgl. insofern auch BSG, Urt. v. 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R

    6BVerwG, Beschl. v. 13.03.2014 – 2 B 49.12

    7ArbG Brandenburg, Urt. v. 24.09.2014 – 5 Ca 131/14

    8BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 755/13

    9Bayerisches LSG Beschl. v. 18.05.2012 – L 15 SF 104/11

    10LSG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 30.07. 2010 – L 3 RJ 154/05

    11BSG, Beschl. v. 01.10.2014 – B 9 SB 53/14 B

    12BSG, Beschl. v. 14.11.2013 – B 9 SB 10/13 B

    13BSG, Beschl. v. 09.04.2003 – B 5 RJ 80/02 B

    14LSG Hessen, Urt. v. 01.02.2002 – L 12/13 RA 1554/00

    15LSG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 30.07. 2010 – L 3 RJ 154/05

    16LSG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 18.01. 2016 – L 5 AR 44/14 KO

    17Bayerisches LSG, Beschl. v. 21.10.2009 – L 2 U 264/02.Ko

    18Bayerisches LSG, Beschl. v. 21.12. 2011 – L 15 SF 208/10 B E

    19LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 24.10. 2011 – L 11 R 4243/10

    20OLG Hamm, Beschl. v. 03.02.2015 – 14 UF 135/14

    21BVerwG, Beschl. v. 13.03.2014 – BVerwG 2 B 49.12

    22BSG, Urt. v. 05.02.2008 – B 2 U 8/07 R

    23BSG, Urt. v. 17.02.2004 – B 1 KR 4/02 R

    24LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 29.08. 2008 – L 4 U 110/04

    25BSG, Beschl. v. 29.05.2015 – B 13 R 129/15 B

    26Vgl. auch BSG, Urt. v. 19.12.2000 – B 2 U 49/99 R

    27Vgl. auch BSG, Beschl. v. 23.5.2006 – B 13 RJ 272/05 B

    28BSG, Beschl. v. 01.04 2014 – B 9 V 54/13 B

    29BSG, Beschl. v. 05.02.2015 – B 13 R 372/14 B

    30Vgl. auch BSG v. 12.12.2003 – B 13 RJ 179/03 B

    31Siehe u.a. BSG, Beschl. v. 23.5.2006 – B 13 RJ 272/05 B – und Beschl. v. 03.12.2013 – B 13 R 447/12 B

    32BSG, Beschl. v. 12.12.2003 – B 13 RJ 179/03 B

    33BSG, Urt. v. 05.02.2008 – B 2 U 8/07 R

    34BSG, Beschl. v. 12.05.2015 – B 9 SB 93/14 B

    35BSG, Urt. v. 22.04.2015 – B 3 P 8/13 R

    36BGH, Urt. v. 30.07.1999 – 1 StR 618/98

    37BGH, Beschl. v. 15.03.2005 – VI ZB 74/04

    38BVerwG, Beschl. v. 03.06.2014 – 2 B 105.12

    39BSG, Beschl. v. 14.10.2014 – B 1 KR 96/14 B

    40BSG, Beschl. v. 30.11.2011 – B 11 AL 50/11 B

    41BSG, Urt. v. 20.07.2010 – B 2 U 17/09 R

    Anschrift für die Verfasser

    Dr. jur. Thomas Stähler

    Justitiar

    Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation

    Solmsstr. 18

    60486 Frankfurt/Main