45. INTERBIOLOGICA, Wiesbaden, 2./3. Juli 2022
Gerade bei der privaten Krankenversicherung (PKV) sind medizinische Sachverständige immer wieder gefordert, naturheilkundliche, komplementär- bzw. alternativmedizinische Behandlungen zu begutachten. Dies gilt umso mehr, als nach § 4 Abs. 2 der einschlägigen Musterbedingungen (MB/KK) auch die Behandlung durch Heilpraktiker unter die Leistungspflicht der PKV fällt, soweit die Tarifbedingungen nichts anderes bestimmen.
Hier bietet sich zur Information – gerade nach Ende der durch COVID-19 bedingten Beschränkungen – der Besuch entsprechender Fachkongresse an, so der 45. INTERBIOLOGICA, „Naturheilkundekongress der Mitte“, am 2. und 3. Juli 2022 in Wiesbaden als „Treffpunkt der internationalen Heilpraktikerschaft“. Das diesjährige Kongressthema widmete sich der „Regeneration von Körper, Geist und Seele“ als elementarer Grundlage für die Gesundheit.
Fort- und Weiterbildungen werden als Grundlage bezeichnet, den Berufsstand des Heilpraktikers zu sichern und das Wissen der Heilpraktiker zu aktualisieren, wie in der Einladung zum Kongress, zu dem ausdrücklich auch „naturheilkundlich interessierte Ärzte/Ärztinnen“ eingeladen waren, ausgeführt. Dabei sei es „wichtig, eine Abgrenzung zur Esoterik, Scharlatanerie etc. zu ziehen“, betonten Britta Spies-Sylvester und Sonja Kirsch, Vorstand des Hessischen Fachseminars für Naturheilkunde e. V., als Veranstalter im Auftrag des Hessischen Heilpraktikerverbands e. V. (Vorstand ebenfalls Sonja Kirsch und Britta Spies-Sylvester) gegenüber dem Autor.
Psychosomatischer Ansatz: Resilienz fördern
Interessant und wissenschaftlich begründet waren etwa die Ausführungen der Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Doris Klinger über Resilienz: Darunter versteht man die psychische Widerstandskraft, d.h. die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung in einem biopsychosozialen Kontext zu bewältigen.
Im psychosomatischen Sinne geht es um Körper und Psyche und damit die Relevanz innerer und äußerer Faktoren: Konfliktfähigkeit, Umgang mit sich selbst, positives Denken, Achtsamkeit, Empathie, Wahrnehmen von Gefühlen etc. Das Stresssystem ist beeinflussbar und unterliegt der Neuroplastizität des Gehirns, so Klingler; dies gelte es zu aktivieren. Als aktive Möglichkeiten, um resilienter zu werden, seien Bewegung, Ernährung, kulturelle Inhalte, Umgang mit Freude, Beziehungsgestaltung, Anwendung und Erlernen funktionaler statt dysfunktionaler Strategien, Schlaf, Anwendung indizierter Entspannungsverfahren wie Yoga, Qi-Gong, Biofeedback, Achtsamkeit etc. zu nennen.
Dass allerdings solche psychosomatischen Ansätze von Heilpraktikern durchaus auch kritisch gesehen werden, zeigen die Ausführungen der Heilpraktikerin Uschi Eichinger zu Burnout, welcher von der konventionellen Medizin nach wie vor „schwerpunktmäßig in die ´Psychoecke` gesteckt“ werde. Die Naturheilkunde wisse das besser – neben Stress spielen angeblich diverse körperliche Ursachen wie Vitalstoffmängel, Darmprobleme, erschöpfte Nebennieren, chronische Infektionen und vieles mehr eine wichtige Rolle. Diese lassen sich angeblich mit moderner Labordiagnostik heute leicht nachweisen, und – einmal gefunden – auch wirksam beheben. Hier bietet sich offenbar ein (attraktives) Behandlungsfeld.
Komplementär- und alternativmedizinische Konzepte
Häufig wurden typisch komplementär- bzw. alternativmedizinische Konzepte und Behandlungsmethoden präsentiert, nicht selten auf entsprechenden Firmenforen, wie etwa die „Entgiftung“. So behauptete der Heilpraktiker Ralf Blume, dass viele chronisch kranke Menschen ein „Vergiftungsproblem“ haben. Bei einem gestörten bzw. verlangsamten Stoffwechsel häufen sich angeblich im Körper Stoffe an, die „vergiftungsähnliche Symptome“ erzeugen können. Zur Therapie stellte er (homöopathische) Mittel „für eine gezielte Entgiftung/Drainage sowie für eine gute Regeneration“ vor.
Ähnlich führte der Heilpraktiker Enrico Thiele aus, dass eine gelungene „Ausleitung von Giftstoffen“ gerade bei chronischen Krankheitsverläufen die Basis für eine erfolgreiche naturheilkundliche Behandlung darstelle, wobei er den Einsatz von homöopathischen Komplexmitteln zur Unterstützung der ausleitenden Organe propagierte.
Wohl ungewollt entlarvend waren die Ausführungen des Heilpraktikers Peter Mandel, Gründer der „Esogetischen Medizin“, welcher in über 50 Jahren praktischer Arbeit angeblich neue diagnostische und therapeutische Möglichkeiten gefunden habe, die „ohne Rücksicht auf die bezeichnete Erkrankung“ bei einem Menschen wirke. Therapien sollten Krankheiten aber möglichst heilen, nicht jedoch Rücksicht auf diese nehmen!
Zudem handelt es sich bei der Esogetischen Medizin/Farbpunktur, mit der „nie zuvor mögliche diagnostische Einblicke in das Individuum Mensch – Körper, Seele und Geist“ möglich sein sollen, um eine Kombination verschiedener ausgesprochen spekulativer alternativmedizinischer Konzepte ohne entsprechend nachgewiesene diagnostische Aussagekraft bzw. therapeutische Wirksamkeit.
Fragwürdige Behandlungsempfehlungen zu COVID-19 und Long-/Post-COVID
Wie zu erwarten waren COVID-19 und insbesondere Long-/Post-COVID ein wichtiges Thema. So beklagte der Apotheker Uwe Gröber, Leiter der Akademie für Mikronährstoffmedizin, dass in der gesamten Pandemiebekämpfung immer noch kein Hinweis auf die physiologische Bedeutung immunrelevanter Mikronährstoffe erfolgt sei, mit der das Immunsystem gegen virale Atemwegserkrankungen unterstützt und Begleitkomplikationen verringert werden könnten. Angeblich ermögliche es nur ein ausgewogenes Angebot an immunrelevanten Mikronährstoffen dem Körper, das Immunsystem zu stärken und das „überlebenswichtige Abwehrteam“ leistungsfähig zu halten.
In ähnlicher Weise äußerte sich Uwe Braun als Geschäftsführer einer entsprechenden Firma, welche Nahrungsergänzungsmittel vertreibt: Er stellte zur Therapie der Corona-Erkrankung die angeblichen therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten „zur Aktivierung der natürlichen Killerzellen zur Immunstärkung und als potente Waffe gegen entartete Zellen“ vor.
Ob hierbei aber die propagierten Nahrungsergänzungsmittel erforderlich sind, erscheint allerdings ausgesprochen fraglich – wäre eine gesunde, ausgewogene, vitamin- und mineralstoffreiche Ernährung nicht ausreichend und zudem sehr viel natürlicher?
Bestimmung von Mineralstoffen, Spurenelementen und toxischen Metallen durch die Haut hindurch?
Die Bestimmung von Mineralstoffen, Spurenelementen, toxischen Metallen und oxidativem Stress mittels Spektralphotometrie auf Gewebsebene als eine innovative Analysemethode präsentierte der Osteopath Jesse de Groodt. Die virtuelle Analyseplattform SO/check biete eine Lösung zur Erkennung und Überwachung relevanter physiologischer Marker in Echtzeit. Zudem werden auch einige Vitamine durch komplexe algorithmische Wechselwirkungen der gemessenen Elemente errechnet, so der Osteopath.
Dass aber mit einem Spektralphotometer „Gewebssäulen intrazellulär wie auch extrazellulär mit Licht ausgemessen und die Emissionen von charakteristischen Frequenzen ermittelt“ werden können, wobei angeblich die Konzentration von Mineralstoffen, Spurenelementen und Schwermetallen mit den körperspezifischen Parametern korreliert werden (wie etwa auf der entsprechenden Homepage behauptet) erscheint aus physikalischer und biologischer Sicht ausgesprochen fraglich. Und wie sollen Vitamine „errechnet“ werden?
Somit überrascht nicht, dass bei den schriftlichen Unterlagen dazu als Disclaimer ausdrücklich festgestellt wird: „Die SO/check-Plattform ist kein medizinisches Gerät. Die Auswertungen können zur Behandlungsoptimierung eingesetzt werden“.
Dass aber auf einem Heilpraktiker-Kongress auch evidenzbasierte Medizin relevant sein kann, zeigen die Informationen eines Herstellers biologischer Arzneimittel, welcher zu einem seiner Präparate darauf hinweist, dass die Kombination aus Myrrhe, Kamillenblütenextrakt und Kaffeekohle nach einer Empfehlung der S3-Leitlinie Colitis ulcerosa „komplementär in der remissionserhaltenden Behandlung eingesetzt werden kann“.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden