Neu ist etwa, dass in der aktuellen NVL auch Empfehlungen zur Attestierung von Arbeitsunfähigkeit gemacht werden:
· Vor der Entscheidung über das Ausstellen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufgrund depressiver Störungen sollen mögliche Vor- und Nachteile mit den Patient*innen erörtert werden.
· Bei Ausstellen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufgrund depressiver Störungen sollen den Patient*innen immer auch angemessene therapeutische Interventionen angeboten werden.
· Die wiederholte Verlängerung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung soll mit dem Angebot einer intensivierten Behandlung verbunden sein.
Als Rationale wird dafür angegeben:
Die konsensbasierten Empfehlungen zielen auf das von der Leitliniengruppe wahrgenommene Versorgungsproblem einer teilweise zu frühen und zu reflexhaften Krankschreibung bei depressiven Störungen im hausärztlichen Bereich. In der Praxis sind Symptomatik und Beeinträchtigungen der Patient*innen häufig nicht so stark ausgeprägt, dass eine eindeutige Arbeitsunfähigkeit (AU) vorliegt. In diesen Fällen muss eine individuelle Entscheidung getroffen werden, die psychosoziale und arbeitsplatzbezogene Faktoren einbezieht.
Das Ausstellen einer AU-Bescheinigung kann zwar ein sinnvolles Angebot zur Entlastung darstellen, kann aber auch – insbesondere bei längerfristigen Krankschreibungen – zur Verschlimmerung und Chronifizierung depressiver Störungen beitragen. Daher empfiehlt die Leitliniengruppe, den Patient*innen zumindest niedrigintensive Interventionen wie z. B. Psychoedukation, Bibliotherapie, aktivierende Begleitung sowie unterstützende Maßnahmen wie Sport anzubieten.
Eine wiederholte AU ohne Versuch, den Behandlungserfolg zu verbessern, erscheint unethisch. Außerdem wird die Rückkehr zur Arbeit mit zunehmender Dauer der AU immer unwahrscheinlicher.
Die Empfehlungen beziehen sich ausdrücklich nicht auf Patient*innen, die wegen einer ausgeprägten Symptomatik bzw. der Schwere der Beeinträchtigungen gemäß ICF klar arbeitsunfähig sind. Bei ihnen erfolgt die Krankschreibung weitgehend unabhängig von psychosozialen oder arbeitsplatzbezogenen Faktoren.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden