Die Zahl der Erkrankungen und Störungen, die mit einer Behinderung einhergehen, geht in die Tausende. Einige von ihnen sind selten und die medizinischen Erfahrungswerte deshalb gering. Es gibt jedoch einige Besonderheiten, die sich bei einem großen Teil der behinderten Patienten finden, und auf die Ärzte vorbereitet sein sollten.
„Ein häufiges Problem ist die eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit“, erklärt der Facharzt für Anästhesiologie Dr. med. Michael Laschat in der Fachzeitschrift AINS. Er ist leitender Oberarzt der Abteilung für Kinderanästhesie am Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße in Köln und macht im Klinikalltag die Erfahrung, dass viele Kinder mit Behinderung ihren Zustand und ihre Beschwerden nicht selbst schildern können. Umgekehrt könne den kleinen Patienten auch das ärztliche Vorgehen oft nicht so erklärt werden, dass sie es nachvollziehen können. Viele seien daher von der Situation rund um einen operativen Eingriff überfordert: Die Anwesenheit vieler Menschen, grelles Licht und eine unbekannte Umgebung irritierten sie stärker als gesunde Altersgenossen. Hier sei es hilfreich, Reize zu minimieren und vertraute Personen möglichst lange beim Kind zu lassen.
Neben der Grunderkrankung als Ursache für die Behinderung haben die Patienten zudem überdurchschnittlich häufig Begleiterkrankungen, die bei der Anästhesie und Schmerztherapie berücksichtigt werden müssen. So können eingeschränkte Beweglichkeit von Gelenken (Kontrakturen) und Skelettveränderungen die intraoperative Lagerung, die Anlage von intravenösen Zugängen und das Atemwegsmanagement erschweren.
Hinzu kommt, dass zum Teil gängige Überwachungsmöglichkeiten nicht wie üblich angewendet werden können. Dazu gehört zum Beispiel die Messung der Hirnströme mittels Elektroenzephalografie (EEG) zur Bestimmung der Narkosetiefe. Das EEG von Kindern mit Zerebralparese (Bewegungsstörung infolge einer frühkindlichen Hirnschädigung) etwa entspricht nicht dem eines gesunden, sodass sich das Narkose-EEG nur bedingt als Richtschnur für die Narkosetiefe geeignet.
Neben medizinischen Besonderheiten sind mitunter missverständliche Verhaltensweisen der Patienten eine Herausforderung. „Wir erleben oft sehr ungewöhnliche Reaktionen auf Schmerzen, wie etwa Lachen, In-die-Hände-Klatschen oder Grimassieren“, weiß Laschat. Diese Zeichen wüssten wenig vertraute Personen oft nicht richtig zu deuten, weshalb Schmerzmittel bei Behinderten bisweilen zu zurückhaltend dosiert würden. „Laut einer Umfrage sind zwar 90 Prozent der Ärzte und Pflegekräfte der Meinung, dass Behinderte genauso schmerzempfindlich sind wie Nichtbehinderte. Trotzdem würden sie ihnen geringere Opioiddosen geben“, berichtet der Experte weiter. Zwar stünden spezielle Skalen zur Schmerzmessung bei behinderten Kindern zur Verfügung, diese würden aber zu selten genutzt. Ein wesentliches Element dieser Bewertungsmaßstäbe seien Angaben von engen Bezugspersonen.
Ohnehin ist die Expertise der Eltern bei der anästhesiologischen Betreuung behinderter Kinder unverzichtbar. Gerade bei seltenen Behinderungen kennen sie die Besonderheiten, die damit einhergehen, meistens sehr gut. Sie können Ärzte und Pflegepersonal über Vorlieben und Ängste ihres Kindes informieren und wissen, wie man es beruhigen oder ablenken kann. „Oft wissen die Eltern auch, welche Vene am besten für einen Zugang geeignet ist und was man bei der Lagerung des Kindes während der Operation beachten muss“, betont Laschat. Bei geplanten Eingriffen rät er daher dazu, schon vor dem Vorgespräch umfassende Informationen über die Erkrankung des Kindes einzuholen, dem Gespräch viel Zeit einzuräumen und solche Fragen gezielt anzusprechen. Von einem offenen Austausch auf Augenhöhe profitierten alle Beteiligten, vor allem aber der kleine Patient.
M. Laschat et al.:
Anästhesie bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung
AINS – Anästhesiologie Intensivmedizin Notfallmedizin Schmerztherapie 2020; 55 (2); S. 106–116
Pressemitteilung Thieme Online