Gemeinsame Stellungnahme der DGNB1, DGN2, DGPPN3, DGPM4 und DGPPR5
Die Bewertung von Fatigue-Symptomen gewinnt aktuell sowohl im Rahmen der Zustands- als auch der Zusammenhangsbegutachtung zunehmend an Bedeutung und wird in unterschiedlichen Rechtsgebieten nachgefragt. Dabei ist sie leider in den Fokus einer teilweise sehr emotional geführten öffentlichen Auseinandersetzung geraten. Verwiesen wurde in diesem Zusammenhang auf die S3-Versorgungsleitlinie „Müdigkeit“ der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Im Folgenden findet sich eine kurze Klärung der Begrifflichkeiten und Darstellung der wissenschaftlichen Grundlagen dieser Problematik im gutachtlichen Kontext.
Unter dem Begriff der Fatigue wird üblicherweise das subjektive Gefühl einer vorzeitigen geistigen und/oder körperlichen Abgeschlagenheit, abnormen Ermüdbarkeit und/oder Erschöpftheit verstanden. Sie ist nicht gleichzusetzen mit einer erhöhten Tagesmüdigkeit bzw. -schläfrigkeit, welche Leitsymptom von Schlafstörungen sein kann. Bei längerer Dauer der Symptomatik wird häufig von einem Chronic Fatigue-Syndrom (CFS) gesprochen.
Fatigue-Symptome treten z.B. bei autoimmun-entzündlichen neurologischen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose und dem unspezifischen sog. postviralen Müdigkeitssyndrom auf, zu dem auch das Post-COVID-Syndrom zu zählen ist, ebenso bei neurodegenerativen Leiden und metabolisch-toxischen Hirnschäden. Die Symptomatik findet sich jedoch auch bei psychiatrischen und psychosomatischen Krankheitsbildern wie depressiven und somatoformen Störungen und sollte von einer damit verbundenen Antriebsstörung und Energielosigkeit abgegrenzt werden. Ebenfalls abzugrenzen sind Fatigue-Symptome im Rahmen onkologischer Erkrankungen, die angesichts der Grunderkrankung gutachtlich jedoch selten Probleme aufwerfen.
Zwar wird verschiedentlich ein CFS auch ohne nähere diagnostische Klärung lediglich anhand deskriptiver Kriterien mit einer entzündlichen Erkrankung des Zentralnervensystems gleichgesetzt, die mit Muskelschmerzen einhergeht („myalgische Enzephalomyelitis“, CFS/ME). Im gutachtlichen Kontext sind Diagnosen jedoch ausschließlich dann zu stellen, wenn die zugrunde liegende Erkrankung – in diesem Fall die entzündliche Hirn- bzw. Rückenmarkserkrankung – ohne vernünftigen Zweifel, also im rechtlichen „Vollbeweis“, nachgewiesen ist. Dies erfordert bzgl. der Entzündung regelmäßig einen bildgebenden Nachweis und/oder geeignete Befunde im Nervenwasser (Liquor cerebrospinalis). Gleiches gilt für die sog. „Post Exertional Malaise“ (PEM), die ein unspezifisches Beschwerdebild mit Verschlechterung nach vorhergehender Anstrengung beschreibt.
Subjektiv berichtete Fatigue-Symptome allein – z.B. in der Selbsteinschätzung in Fragebögen – können im gutachtlichen Kontext keine Leistungsminderung begründen, sondern nur dann, wenn diese mit einer objektiv nachweisbaren Minderung der kognitiven und/oder motorischen Performance verbunden ist. Da im rechtlichen Kontext nicht nur Diagnosen, sondern auch die damit zusammenhängenden Funktionsstörungen ohne vernünftigen Zweifel nachweisbar sein müssen („Vollbeweis“), erscheint es daher stets sinnvoll, zwischen subjektiver „Fatigue“ und durch geeignete neuropsychologische Verfahren objektivierter „Fatigability“ zu unterscheiden.
Nachdem Fatigue-Symptome Ausdruck einer zerebral bedingten Leistungsbeeinträchtigung sein können, erfordert die Diagnosestellung und Objektivierung einer Fatigability regelmäßig spezifische Erfahrung sowohl auf neurologischem als auch psychiatrischem und psychosomatischem Fachgebiet. Gerade wegen der komplexen Differenzialdiagnostik ist es wichtig, dass die Begutachtung aus der Breite der Fachgebiete heraus erfolgt und CFS nicht als isolierte Krankheitsentität gesehen wird. Darüber hinaus wird für die Beurteilung der kognitiven Fatigability spezifische neuropsychologische Kompetenz benötigt. Schlafmedizinische Untersuchungen können die Einschätzung im Einzelfall unterstützen, z.B. durch Ausschluss eines Schlafapnoesyndroms oder einer Narkolepsie. Hervorzuheben ist auch, dass die S3-Leitlinie „Müdigkeit“ zur Begutachtung keine Aussagen macht. Hier sei auf die einschlägigen Leitlinien zur Begutachtung neurologischer, psychiatrischer und psychosomatischer Krankheitsbilder verwiesen, die auch beim CFS Gültigkeit haben.
B.Widder, Günzburg