Zur neuen S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung onkologischer PatientInnen“
Die S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“ (AWMF-Registriernummer: 032/055OL) wurde nach langer Vorbereitungszeit im Juli 2021 veröffentlicht. Sie richtet sich in erster Linie an Ärzte und Patienten, aber auch an zahlreiche weitere Adressaten wie etwa die Kostenträger, „zur Information über gute medizinische Vorgehensweise im Zusammenhang mit komplementären Verfahren“.
Herausgeber der – in der Langversion mit 630 Seiten beindruckend ausführlichen – ersten Leitlinie zu dieser wichtigen Thematik ist das Leitlinienprogramm Onkologie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. (DKG) und der Deutschen Krebshilfe (DKH). Beteiligt waren insgesamt 72 ehrenamtlich arbeitende Fachexperten aus 46 Fachgesellschaften und Organisationen einschl. 4 Selbsthilfegruppen. Die Leitlinienkoordination lag bei Jutta Hübner, den Lesern dieser Zeitschrift bekannt aus ihrem einschlägigen Beitrag über Gefahren der Alternativmedizin in der Onkologie (Heft 1/2020, S. 31-33).
In der Leitlinie werden, so die Autoren, die wichtigsten zur komplementären und alternativen Medizin zählenden Methoden, Verfahren und Substanzen, die aktuell in Deutschland von Patienten genutzt werden bzw. ihnen angeboten werden, nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin bewertet mit dem Ziel, evidenzbasierte und formal konsentierte Empfehlungen (auch Negativ-Empfehlungen) für anstehende Entscheidungen in der Onkologie zu geben. Auf diesem Weg soll die Qualität der Versorgung verbessert werden; weiter sollen unnötige Ausgaben – auch für die Solidargemeinschaft – vermieden werden.
Die Beurteilung erfolgt dabei in vier thematischen Blöcken:
Betont wird in der Leitlinie, dass unter einheitlichen Bezeichnungen von Methoden wie Akupunktur, Akupressur, Anthroposophische Medizin, Homöopathie, Tai Chi, Qigong, Yoga, Meditation, Bioenergiefeldtherapie, Chirotherapie / Osteopathie, Cranio-Sacral-Therapie, Reflextherapie, Schwedische Massage, Shiatsu / Tuina, Hyperthermie etc. teilweise sehr unterschiedliche Verfahren subsummiert werden, so dass hier ggf. eine differenzierte Auseinandersetzung erforderlich ist.
Allerdings ist kritisch anzumerken, dass einige in der Alternativmedizin gerade auch zur Behandlung von Krebspatienten weit verbreitete Therapiekonzepte wie die (meist intravenös durchgeführten) Ozon- und/oder Sauerstoffhandlungen in dieser Leitlinie fehlen.
Die umfangreiche Dokumentation zeigt, dass für die meisten Methoden der komplementären Medizin nur wenig wissenschaftliche Daten vorliegen, erklären die Autoren. Hinzu kommt, dass viele Studien eine kleine Patientenzahl aufweisen oder eine adäquate Vergleichsgruppe fehlt. Solche Studien sind methodisch kritisch zu betrachten und die Interpretation der Ergebnisse ist damit eingeschränkt. Während einige Studien belegen, dass sich die Anwendung einzelner komplementärmedizinischer Methoden günstig auf bestimmte Nebenwirkungen der onkologischen Therapie oder auf die Lebensqualität der Betroffenen auswirken kann, gibt es allerdings nur in wenigen Studien systematisch erfasste Daten zu potenziellen Schäden in Form von Nebenwirkungen und Interaktionen komplementärer oder alternativer Methoden.
Jedoch ist insbesondere die Berücksichtigung potenzieller Arzneimittelinteraktionen in der Onkologie von hoher Bedeutung, warnen die Verfasser der Leitlinie: Interaktionen können unter anderem zu einer Verminderung der Wirksamkeit der Tumortherapie oder der supportiven Therapie führen oder umgekehrt auch verstärkte Nebenwirkungen zur Folge haben, z. B. durch eine Erhöhung der Bio-Verfügbarkeit. Hinzu kommen Nebenwirkungen, z. B. von Phytotherapeutika, die sich in einer Organtoxizität äußern können. Diese werden ggf. nicht als primäre Folge der komplementären Therapie, sondern als Folge der Tumortherapie fehlinterpretiert. All dies kann zu Therapieentscheidungen führen, welche für die Krebspatienten erhebliche Konsequenzen haben, wenn z. B. Tumortherapien geändert, reduziert oder gar abgesetzt werden.
Mit starkem Expertenkonsens wird betont, dass Ärzte, welche ihren onkologischen Patienten komplementärmedizinische Maßnahmen empfehlen, diese auf mögliche Qualitätskriterien für Anbieter hinweisen. Unseriöse Methoden sollen zum Schutz des Patienten klar benannt werden.
Beispiele gutachtlich relevanter Statements
Es werden insgesamt 155 evidenzbasierte Empfehlungen bzw. Statements formuliert, welche jeweils ausführlich erläutert und begründet werden. Hier zunächst sechs Beispiele zusammenfassender Statements von besonderer gutachtlicher Relevanz zu häufig eingesetzten Präparaten:
Die in Deutschland besonders beliebte Misteltherapie wird hinsichtlich der Gesamtüberlebenszeit und der Lebensqualität differenziert beurteilt:
Die Studienlage wird ausführlich diskutiert und die verschiedenen Mistelpräparate werden in einer eigenen Tabelle über 20 Seiten (!) äußerst differenziert dargestellt und diskutiert.
Die Akupunktur wird detailliert beurteilt, mit insgesamt 17 Statements zu den verschiedenen Indikationen. So gibt es etwa eine Empfehlung für Akupunktur zur Behandlung von Tumorschmerzen:
Zur Elektrohyperthermie (mittels elektrische Felder, die angeblich eine selektive Erwärmung in den Tumorzellen bzw. im Tumorgewebe erreichen) und zur Ganzkörperhyperthermie (über Infrarotstrahlung oder auch im Wasserbett) wird zusammenfassend festgestellt:
Auch die Reflextherapie, bei welcher durch manuelle Reizung angeblicher Körperzonen (insbesondere der Füße) die Selbstheilungskräfte der Organe gefördert werden sollen, wird kritisch beurteilt:
Juristische Relevanz für die Begutachtung in der privaten Krankenversicherung (PKV)
Im Leitlinienreport der S3-Leitlinie, einem eigenen Dokument, wird die Recherchestrategie beschrieben (Punkt 4.3.1.):
„Für alle PICO-Fragen [PICO: Akronym für: Patient, Intervention, Compare (=Vergleichstherapie), Outcome (=Endpunkt)] der Leitlinie wurde eine systematische Suche durchgeführt. ... Die PICO-Fragen wurden möglichst offen formuliert, da im Bereich der komplementären und alternativen Medizin die entsprechenden Interventionen sehr vielfältig und teilweise in Eigenregie der Betroffenen eingesetzt werden. Eine Eingrenzung auf bestimmte Outcomes hätte einen zu großen Verlust an Information über mögliche Wirksamkeiten, aber auch mögliche Schäden bedeutet. Eine Eingrenzung auf bestimmte Arten von Kontrollgruppen hätte ebenso einen großen Verlust an Informationen bedeutet, da von sehr heterogenen Studienansätzen auszugehen war.“
Das ist angesichts der aktuellen Rechtsprechung von besonderer Bedeutung für die Begutachtung komplementärer (bzw. auch alternativmedizinischer) Behandlungen im Bereich der privaten Krankenversicherung (PKV) unter dem Aspekt der medizinischen Notwendigkeit:
So hatte der Bundesgerichtshof (BGH) mit Beschluss vom 30.10.2016 (AZ: IV ZR 307/12, Bremen) ausgeführt, dass bei lebensbedrohenden oder gar lebenszerstörenden, unheilbaren Erkrankungen die Vertretbarkeit der Behandlung (im Sinne von medizinisch notwendig) bereits dann zu bejahen sei, wenn sie als wahrscheinlich geeignet angesehen werden könne, zumindest auf eine Verlangsamung der Erkrankung hinzuwirken. Dabei reiche es aus, wenn die Behandlung nicht nur mit ganz geringer Erfolgsaussicht die Erreichung des Behandlungsziels als möglich erscheinen lässt. Dem stehe nicht entgegen, dass eine Behandlungsmethode noch nicht in der medizinischen Literatur nach wissenschaftlichem Standard dokumentiert worden sei.
Angesichts der umfangreichen Recherchestrategie der S3-Leitlinie werden die dort getroffenen, ausführlich begründeten Statements den vom BGH genannten Kriterien offenbar gerecht.
https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/komplementaermed…
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden ■