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Bemessung der Invalidität nach Nierentransplantation

Fallschilderung

Vorbestehend sind bei dem 56 Jahre alten Mann verschiedene internistische Erkrankungen, insbesondere eine teilkompensierte chronische Niereninsuffizienz mit einem Kreatininwert von ca. 1,8 mg/dl (2/2020).

Infolge eines Unfallereignisses 4/2020 waren innerhalb von 24 Stunden zwei Hüftgelenksoperationen erforderlich. Zeitgleich kam es zu einem schnellen Anstieg der Retentionsparameter, eine Dialysebehandlung war beginnend ab dem 10.04.2020 erforderlich, die bis heute fortgeführt wird.

Versicherungsmedizinische ­Fragestellung

Eine erste gutachterliche Untersuchung erfolgte zum Ende des 1. Unfalljahres. Zu diesem Zeitpunkt war an 3 Tagen wöchentlich eine Dialysebehandlung erforderlich, der Invaliditätsgrad wurde entsprechend mit 100 % bemessen.

Allerdings konnte zu diesem Zeitpunkt das Heilverfahren noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden, denn es bestand als therapeutische Option die prinzipielle Möglichkeit einer Nierentransplantation. Ob diese bis zum Ende des 3. Unfalljahres zu realisieren war und mit welchem funktionellen Ergebnis, konnte naturgemäß nicht belastbar abgeschätzt werden. Eine Nachuntersuchung zum Ende des 3. Unfalljahres war somit unbedingt erforderlich.

Die PUV fragt nun, ob bei erfolgreicher Nierentransplantation und unkompliziertem Verlauf zum Ende des 3. Unfalljahres überhaupt noch eine Invalidität bestehen wird respektive welcher Invaliditätsgrad mindestens fortbestehen wird/nicht unterschritten wird.

Parameter der Invalidität nach ­erfolgreicher Nierentransplantation

Die Leistungsfähigkeit des Nierentransplantates ist mithilfe des Kreatinin-Wertes im Serum und Bestimmung der Kreatinin-Clearance leicht und vor allem nicht invasiv zu ermitteln. Eine erfolgreiche Nierentransplantation ließe für beide Parameter Normalwerte erwarten.

Die bei ausschließlicher Betrachtung der Nierenfunktionsparameter naheliegende Bemessung der verbleibenden Invalidität mit 0 % wird jedoch der komplexen Situation nach Nierentransplantation nicht gerecht. Vielmehr müssen mindestens folgende Parameter in die Bemessung der verbleibenden Invalidität einbezogen werden:

Verkürzung der Lebenserwartung

Die 10 Jahres-Überlebensrate transplantierter Patienten beträgt 66,9 %, vereinfacht gesagt versterben somit ca. 1/3 der transplantierten Patienten innerhalb von 10 Jahren (Hariharan, 2021) nach der Transplantation. Ein nierengesunder 56-jähriger männlicher Bundesbürger hätte jedoch eine statistische Lebenserwartung von 87,3 Jahren, also von noch 31,3 Jahren, bezogen auf das 56.Lebensjahr.

Funktionsdauer des Transplantates ist limitiert

5 Jahre nach Transplantation sind 79 % (Todspende) respektive 87 % (Lebendspende) der Transplantate noch funktionsfähig (Wang et al, 2016), nach 10 Jahren 53,6 % respektive 69,6 %.

Immunsuppressive Behandlung ­erforderlich

Eine T-Zell-fokussierte kombinierte immunsuppressive Behandlung ist dauerhaft erforderlich, um eine Abstoßungsreaktion/einen Transplantatverlust zu verhindern. Am weitesten verbreitet ist die Kombination aus Mycophenolatmofetil, Tacrolimus und niedrig dosiertem Prednisolon (Hariharan et al, 2021, Brakemeier et al, 2016).

Mycophenolatmofetil hat zahlreiche Nebenwirkungen. Häufige Nebenwirkungen (> 10 % der Patienten) sind Anämie, Thrombozytopenie, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Infolge der Unterdrückung des Immunsystems können vermehrt Infekte auftreten (z.B. Sepsis, Candidose, Herpes simplex, Herpes zoster).

Tacrolimus weist ebenfalls zahlreiche Nebenwirkungen auf, insbesondere Durchfall, Übelkeit, hoher Blutdruck, Kopfschmerzen und Diabetes mellitus.

Die Überwachung einer derartigen immunsuppressiven Behandlung erfordert daher engmaschige ärztliche Kontrolluntersuchungen.

Störung der körperlichen Integrität

Die typischerweise im rechten Unterbauch platzierte Transplantatniere wird von vielen Patienten als tastbarer Fremdkörper empfunden, der druckempfindlich sein kann, zum Beispiel durch die Kleidung oder einen Gürtel. Die zur Transplantation erforderliche Laparatomienarbe kann per se oder z.B. durch Entwicklung einer Narbenhernie Beschwerden bereiten.

Bemessung der Invalidität nach ­erfolgreicher Nierentransplantation

Einschlägige Handbücher der Begutachtung (Lehmann, 2018, Mehrtens, 2010) enthalten hierzu keine Angaben. Orientiert man sich an der Versorgungsmedizin-Verordnung, so findet sich hier folgende Festlegung:

„Nach Nierentransplantation ist eine Heilungsbewährung abzuwarten (im Allgemeinen 2 Jahre). Während dieser Zeit ist ein GdS von 100 anzusetzen. Danach ist der GdS entscheidend abhängig von der verbliebenen Funktionsstörung. Unter Mitberücksichtigung der erforderlichen Immunsuppression ist jedoch der GdS nicht niedriger als 50 zu bewerten“.

Kommentierend wird ausgeführt, „dass nach erfolgreicher Nierentransplantation die verschiedenen Größen der körperlichen Leistungsfähigkeit zwar zunehmen. Sie erreichen aber nur ca. 2/3 der Leistungsfähigkeit gleichaltriger Nierengesunder. Deshalb kann der GdS nach Ablauf der Heilungsbewährung nicht „automatisch“ auf 50 zurückgestuft werden (Nieder, 2012). Bei der Aussage zur verbliebenen Leistungsfähigkeit handelt es sich um einen Erfahrungswert, der nicht der Literatur zu entnehmen ist.

In den USA erfolgt die Bemessung der Invalidität hingegen anhand eines sehr präzisen, differenzierten Regelwerkes (Rondinelli, 2008), das von der American Medical Assoziation (AMA) erarbeitet wurde. In einem 1. Schritt wird die Leitdiagnose (key factor) einer Schädigungsklasse zugeordnet. Im Fall einer Nierentransplantation ist dies die Schädigungsklasse 2, sie bedingt definitionsgemäß eine Invalidität zwischen 16 % und 32 % mit einer regelhaften durchschnittlichen Invalidität von 24 %.

In einem 2. Schritt wird dann anhand von weiteren Kriterien (non-key factors) eine Graduierung der durchschnittlichen Invalidität vorgenommen mit dem Ergebnis, dass die zunächst anhand der Schädigungsklasse festgestellte Invalidität ggfls. niedriger oder höher anzusetzen ist. Die Graduierungsstufen werden mit den Buchstaben A bis E gekennzeichnet.

Die so ermittelte Invalidität kann noch durch einen Zuschlag für eine etwaige medikamentöse Behandlung von maximal 3 % erhöht werden. Hierbei wird allerdings nicht die Art der Behandlung (z.B. Therapie einer Hypercholesterinämie mit einem CSE-Hemmer versus aggressive immunsuppressive Behandlung) bewertet, sondern lediglich die Anzahl der erforderlichen Tabletten. Bei einer Einnahme von mehr als 6 Tabletten täglich wird der maximale Zuschlag von 3 % erreicht (BOTC- Burden of treatment Compliance).

Wendet man dieses Regelwerk auf mögliche Fallkonstellationen nach Nierentransplantation an, so ergeben sich folgende beispielhafte Berechnungen der Invalidität:

  • Nierentransplantation, guter Allgemeinzustand, Kreatinin-Clearance > 100 ml/min
  • Invalidität Klasse 2 / Graduierung A: 16 % +3 % Zuschlag = 19 %

  • Nierentransplantation, mäßiger Allgemeinzustand, Kreatinin-Clearance 40-51 ml/min
  • Invalidität Klasse 2 / Graduierung C: 24 % +3 % Zuschlag = 27 %

  • Nierentransplantation, schlechter Allgemeinzustand, Kreatinin-Clearance < 28 ml/min
  • Invalidität Klasse 2 / Graduierung E: 32 % +3 % Zuschlag = 35 %

    Für die zu begutachtende Person bedingt die mittlere Invalidität der Klasse 2 zunächst eine Invalidität von 24 %. Wegen fehlender weiterer Schädigungsfolgen ist die Invalidität auf 16 % herunterzustufen, entsprechend dem niedrigsten Invaliditätsgrad einer Klasse 2-Erkrankung. Die erforderliche umfangreiche Dauermedikation bedingt einen Zuschlag von 3 %.

    Die Invalidität ist danach mit 16 % +3 % =19 % zu bemessen.

    Zusammenfassung

    Die gutachterliche Fragestellung der PUV lautete, welcher Invaliditätsgrad nach erfolgreicher Nierentranslation zum Ende des 3. Unfalljahres mindestens bestehen respektive nicht unterschritten wird. Zu dieser Fragestellung finden sich in der deutschsprachigen Fachliteratur keine relevanten Angaben. Die Bestimmungen der Versorgungsmedizin-Verordnung sind u. E. als Orientierungshilfe ungeeignet.

    Eine differenzierte Beurteilung der hier vorliegenden Konstellation ermöglicht jedoch die Heranziehung des Regelwerkes der American Medical Association (Rondinelli, 2008). Danach ergäbe sich eine Invalidität von 19 %.

    Dieser Wert berücksichtigt aber nicht alle Kofaktoren und Komorbiditäten eines Lebens nach Nierentransplantation (z. B.Osteoporose, sek.Hyperparathyreoidismus, renale Anämie). Wir haben in Beantwortung der Fragestellung der PUV daher bei dem Betroffenen die zum Ende des dritten Unfalljahres mindestens verbleibende Invalidität mit 30 % bemessen.

    Literatur

    1 Hariharan S et al (2021) Long-Term Survival after Kidney Transplantation N Engl J Med., 385: 729-743

    2 Wang JH et al (2016) Current status of kidney transplant outcomes: dying to survive
    Adv Chronic Kidney Dis ;23:281-286

    3 Brakemeier S et al (2016) Experience with belatacept rescue therapy in kidney transplant recipients Transpl Int ;29:1184-1192

    4 Lehmann R et al (2018) Die Invalidität in der privaten Unfallversicherung VVW GmbH Karlsruhe, 5.Auflage

    5 Mehrtens G et al (2010) Arbeitsunfall und Berufskrankheit Erich Schmidt Verlag, Berlin, 8. Aufl.

    6 Nieder P et al (2012) Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten Referenz-Verlag, Frankfurt, 2. Aufl.

    7 Rondinelli RD et al (2008) Guides to the Evaluation of Permanent Impairment Sixth Edition 2008 www.ama-assn.org

    Anschrift des Verfassers:

    Dr. med. Axel Rambow
    Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie
    Institut für Versicherungsmedizin IVM
    Am Lindenbaum 6 a
    60433 Frankfurt