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Charles Dickens – der Schöpfer der Weihnachtsgeschichte als Krankenbeobachter

Im Roman „Klein Dorrit“ beschreibt Dickens den Onkel der Titelfigur mit einem matten Auge, einer gelähmten Hand, gebeugter Gestalt, versteiftem Körper und schlurfendem Gang. Dr. Kurt Schmidt, Leiter des Zentrums für Ethik in der Medizin (ZEM) in Frankfurt/Main verweist auf die australische Neurologin Kerrie L. Schoffer, die gemeinsam mit ihrem Kollegen John D. O’Sullivan darin die Beschreibung eines Morbus Parkinson erkannt hat. Auch im Roman „Die Pickwickier“ begegnet dem Leser ein einsamer alter Mann, in dessen Gesicht „ein Ausdruck der tiefsten, hoffnungslosesten Verzweiflung lag. Seine Glieder schlotterten krankhaft, und sein Gesicht war wie gelähmt.“ Dickens benötigte hier nur wenige Sätze, um die körperliche und geistige Verfassung des Erkrankten vor unserem geistigen Auge erstehen zu lassen.

Professor Klaus Lewandowski empfiehlt jedem Arzt die Lektüre des Buchs „Die Pickwickier“. Der Roman war namensgebend für einen Symptomkomplex, der heute mehr Menschen betrifft als zu Dickens‘ Zeit: das Pickwick-Syndrom. Der Pferdekutscher Fat Joe, ein junger Mann, der ständig isst und häufig tagsüber einschläft, war mit einem Gewicht von 20 englischen Pfund (etwa 126 kg) so stark fettleibig, dass er eine Vielzahl von Krankheitssymptomen zeigte. Diese werden heute unter der weniger bildhaften Diagnose „Obesitas-Hypoventilationssyndrom“ zusammengefasst.

Eine weitere von mehr als 40 Krankheiten, die Dickens in seinen Werken beschrieb, war die Pott’sche Krankheit, eine heute nur noch selten auftretende Form der Knochentuberkulose. Tiny Tim, dessen Vater in der Weihnachtsgeschichte bei Geizkragen Ebenezer Scrooge als Buchhalter angestellt war, litt daran so schwer, dass seine Beine durch eiserne Schienen gestützt werden mussten. Scrooge selbst litt wie zwei bis drei Prozent der heutigen Bevölkerung, wahrscheinlich an einer posttraumatischen Verbitterungsstörung. Die damit verbundene menschenfeindliche Einstellung, die Dickens auch wieder trefflich beschreibt, ist häufig die Folge stark belastender Lebensereignissen wie Kränkung, Ungerechtigkeit oder Vertrauensbruch.

Dickens hat jedoch auch von einer Erkrankung erzählt, deren Existenz Gerichtsmediziner heute stark bezweifeln: die „spontane menschliche Selbstentzündung“, welcher der Lumpenhändler Mr. Krook in „Bleak House“ erlegen ist. Man findet nur ein Häuflein Asche auf dem Boden, die Umgebung ist unversehrt. Dickens war von der Existenz dieser „spontaneous human combustion“ wie viele seiner Zeitgenossen überzeugt, erntete jedoch auch damals schon viel Kritik seitens der Wissenschaft.

Die Romane Dickens‘ hatten in England direkte Auswirkungen auf politische Entscheidungen. Seine Schilderung der Zustände in den Londoner Schlachthöfen führte beispielsweise dazu, dass 1852 der Handel mit lebenden Tieren und öffentliche Schlachtungen im Smithfield Market in der Innenstadt verboten wurden. Auch setzte sich Dickens erfolgreich für die 1824 gegründete Anti-Vivisektionsorganisation ein, die dazu beitrug, dass 1876 der sogenannte „Cruelty to Animals Act“ verabschiedet wurde, der das Experimentieren an nicht betäubten Tieren stark beschränkte.

Schriftstellerkollegen wie Stefan Zweig und Vladimir Nabokov bewunderten nicht nur Dickens‘ Erzählkunst, sondern äußerten auch ihre Wertschätzung für dessen literarisches Auflehnen gegen die Missstände seiner Zeit, berichtet Dr. Kurt Schmidt. Anstelle eines Aufrufs zur gewaltsamen Revolution setzte Dickens jedoch auf das Erzeugen eines Mitgefühls, das gut in die vorweihnachtliche Zeit passt. Er glaubte daran, dass in diesen Tagen kurz vor dem Jahreswechsel persönliche Wandlungen vollzogen werden und die Menschen neue Einsichten gewinnen können. Klaus Lewandowski und Kurt Schmidt sehen die Weihnachtsfeiertage als gute Gelegenheit, ein Werk von Dickens zur Hand zu nehmen, das vergangene Jahr Revue passieren zu lassen und den persönlichen Lebensstil zu überdenken.

K. Lewandowski und K. W. Schmidt:
Weihnachten mit Charles Dickens: Der Literat als Krankenbeobachter und guter Moralist DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift 2020; 145 (25); S. 1833–1839

Pressemitteilung Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart