55. TCM Kongress Rothenburg, 7. – 11.5.2024
Behandlungen nach dem Konzept der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) umfassen weit mehr als Akupunktur und chinesische Heilkräuter. Umfangreiche Informationen zum Verständnis psychischer Erkrankungen und deren Behandlung in der TCM gab es auf dem 55. TCM Kongress Rothenburg der AGTCM (Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin) vom 7. bis 11. Mai 2024, dessen erster Themenschwerpunkt „Shen und Psyche“ lautete.
Der Begriff „Shen“
Dem nicht mit der TCM Vertrauten dürfte schon der Begriff „Shen“ unklar sein. Die Sinologin und Heilpraktikerin Dominique Hertzer aus Utting am Ammersee führte dazu aus:
„Der Geist (Shen) wird in der frühen chinesischen Philosophie und Medizin als kosmische Kraft verstanden, die im gesamten Kosmos wirksam und nicht primär individueller Natur ist. Insofern ist Shen eben der Aspekt, welcher sich, im Unterschied zu allen anderen Aspekten des menschlichen Organismus, nicht in die Kategorien von Yin und Yang einteilen lässt. Dieser Bezug des Geistes zur Ungeschiedenheit von Yin und Yang hat wiederum unmittelbare Konsequenzen für das therapeutische Vorgehen in der chinesischen Medizin. Wir werden sehen, warum – im Unterschied zum abendländisch-medizinischen Konzept der Psyche und des Bewusstseins – der Geist selbst nicht erkranken kann und auf welche Weise er die Gesundheit eines Menschen zu initiieren vermag.“
Hier wird ein erster wesentlicher Unterschied zwischen dem Konzept der TCM und dem der westlichen Medizin deutlich, bei dem ja – in der alten Nomenklatur – ausdrücklich von „Geisteskrankheiten“ die Rede ist.
Depression und deren Behandlung nach TCM-Konzept
In der chinesischen Medizin sind Stagnation (Yu) und psychische Depression (Yu) fast synonym, was bedeutet, dass jede Depression (zumindest anfänglich) auf Stagnation zurückzuführen ist, erklärte Janet Pimentel Paredes, TCM-Therapeutin auf den Philippinen, und verwies auf die Beziehung zwischen dem Geist (Shen) und der ätherischen Seele (Hun).
Über die Behandlung der Depression mit „Applied Channel Theory“ (der TCM-Begriff „Channel“ bzw. „Kanal“ wird im Deutschen meist mit „Meridian“ übersetzt, so auch hier vom Autor) berichtete Jonathan Chang aus Peking (China) in seinem Workshop:
„Emotionale/psychische Störungen wie Depressionen führen zu einer Disharmonie der normalen Physiologie der Meridiane. Ein Schwerpunkt wird auf der Wirkung emotionaler Zwänge auf die Qi-Dynamik der Meridiane liegen. Das Ziel des Workshops besteht darin, zu diskutieren, wie man am besten bestimmen kann, welche Meridiane von Depressionen betroffen sind, und zwar durch eine Analyse der Differenzierung von Symptom-Mustern und der Erkenntnisse aus der Untersuchung der Meridiane.
Die Applied Channel Theory ist ein Ansatz, der in den dualen Forschungszweigen klassischer Texte und moderner klinischer Anwendung wurzelt. Genauer gesagt erfordert die Applied Channel Theory, dass die Untersuchung von Meridianen im breiteren Kontext anderer Diagnose-Tools betrachtet wird.“
Phytotherapie von Schlafstörungen nach TCM-Konzept
Die Phytotherapie von Schlafstörungen nach Vorstellungen der TCM beschrieb die Heilpraktikerin Birte Hinz aus Frankfurt. Zur Pathophysiologie führte sie etwa aus:
Die Wirkung des (auch in der westlichen Phytotherapie oft bei Schlafstörungen eingesetzten) Baldrians beschrieb sie folgendermaßen: „Baldrian tonisiert Yin und Blut, besänftigt den Shen, besänftigt Leber-Yang, sediert inneren Wind und bewegt tonisiert das Qi.“ Auch empfahl sie verschieden Heilpflanzen zur Behandlung etwa der „Resthitze im Zwerchfell“, oder aber für Pathophysiologien nach dem TCM-Konzept wie „Schleim-Hitze beeinträchtigt das Herz“ bzw. „Schleim verlegt die Herzöffnungen“ oder „Leber-Yin-Mangel mit aufsteigendem Leberfeuer“, um nur einige zu nennen.
Dämonologie als Bestandteil der TCM
Aus moderner westlich-wissenschaftlicher Sicht besonders befremdlich dürfte zudem gerade das Thema des TCM-Forschungs-Thementages sein: „Die historische und psychiatrische Bedeutung dämonologischer Konzepte in der TCM“.
Dort erklärte etwa der TCM-Therapeut und „Dragon Gate Daoist“ in der 24. Generation Johan Hausen aus Auckland (Neuseeland), der aktuell als Akupunkteur in einer psychosomatischen Klinik in Burscheid (bei Köln) arbeitet, sein Vortrag konzentriere sich auf „daoistische exorzistische Methoden aus dem Blickwinkel moderner Anwendungen gemäß der beiden heute vorherrschenden Schulen des Daoismus“ (d. h. der chinesischen Philosophie).
Nachvollziehbar sind dagegen die Ausführungen des Neurologen und TCM-Arztes Sven Schöder, Geschäftsführer des HanseMerkur Zentrums für Traditionelle Chinesische Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er erläuterte das Zusammenspiel von rationalen und okkulten Perspektiven in der antiken chinesischen Medizin und erklärte die „Dämonenmedizin als Vorläufer der Psychotherapie“. Demnach „hielten sich dämonologische Überzeugungen ... bis zu ihrem Bedeutungsverlust nach dem 17. Jahrhundert. Sie können aber als psychotherapeutische Vorläufer interpretiert werden.“ Diese Aspekte zu ignorieren sei „eine Simplifizierung der historischen Komplexität“ der chinesischen Medizin.
Diese kurzen Ausführungen zeigen, dass der TCM ein gegenüber der modernen wissenschaftlichen Medizin völlig anderes Verständnis nicht nur von Physiologie und Anatomie, sondern auch der Psyche und deren Erkrankungen zugrunde liegt. Das muss auch bei der Begutachtung entsprechender Behandlungen, etwa zur Frage der medizinischen Notwendigkeit oder auch bei Haftpflicht-Fragen, berücksichtigt werden.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden