Schwindel ist ein häufiges Symptom. Etwa drei von zehn Menschen erkranken im Verlauf ihres Lebens an Gleichgewichtsstörungen. Bei den meisten tritt der Schwindel nur zeitweise auf. In der übrigen Zeit sind die Betroffenen beschwerdefrei und während der Schwindelattacken setzen sie sich in der Regel nicht hinters Steuer. Doch was ist, wenn der Gleichgewichtssinn während der Fahrt verrücktspielt?
Um die Patienten und andere Verkehrsteilnehmer besser zu schützen, wurde im Jahr 2014 die „Begutachtungsleitlinie zur Kraftfahreignung“ um eine Liste von Gleichgewichtsstörungen ergänzt. Dort sind alle wesentlichen Schwindelformen erfasst, die die Fahreignung beeinträchtigen können, erklärt Professor Doreen Huppert. Vergleichbare Listen, die die Schwindelformen und damit verbundenen Einschränkungen so detailliert aufzeigen, gebe es in anderen Ländern nicht.
Nach Ansicht der Fachärztin für Neurologie, die am DSGZ am Klinikum Großhadern der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München tätig ist, schießt die Leitlinie jedoch weit über das Ziel hinaus. „Zu kategorisch und deutlich zu streng“, lautet ihr Urteil nach den ersten fünf Jahren der Begutachtung. Patienten mit Schwindelerkrankungen müssen länger attackenfrei sein als solche mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Epilepsien. Dabei könne es bei Letzteren zu einer plötzlichen Bewusstlosigkeit kommen, schreibt Professor Huppert. Bei Schwindelattacken komme es in der Regel nicht zur Ohnmacht. Die Fahrtüchtigkeit sei zwar eingeschränkt, aber nicht grundsätzlich aufgehoben.
Kritisch sieht Huppert beispielsweise die geforderte schwindelfreie Zeit für Patienten mit Menière-Krankheit. Die Betroffenen leiden unter Schwindelanfällen, die meist eine halbe Stunde bis zu mehreren Stunden andauern. Bei einigen Patienten kommt es vor den Attacken zu Hörminderung, Tinnitus oder einem Druckgefühl in den Ohren. Wenn diese Warnzeichen regelmäßig auftreten, gibt es für Privatfahrer keine Einschränkungen. Beginnen die Attacken jedoch ohne Ankündigung, sind die Patienten erst wieder fahrgeeignet, wenn mindestens zwei Jahre seit dem letzten Anfall vergangen sind. Zum Vergleich: Patienten mit einer Epilepsie müssen nach einem ersten Anfall nur sechs Monate anfallsfrei bleiben, nach einem wiederholten Anfall ein Jahr.
Patienten mit vestibulärer Migräne, die neben Kopfschmerzen und Übelkeit auch unter Schwindelattacken leiden, müssen sogar drei Jahre attackenfrei sein, bis sie wieder Auto fahren dürfen. Das ist aus Sicht von Professor Huppert häufig unangemessen.
Hinzu kommt, dass manche in der Leitlinie genannten Untersuchungen nicht bei allen Fachärzten möglich sind. Eine exzentrische Körperrotation auf einem Drehstuhl zur Testung der sogenannten Otolithenfunktion sei im deutschsprachigen Raum nur in einer Handvoll wissenschaftlicher Speziallabore durchführbar, schreibt Professor Huppert. Ähnliches gilt auch für andere in der Begutachtungsleitlinie aufgeführten Untersuchungen.
Professor Huppert befürchtet, dass die Leitlinie auf Dauer das Vertrauen der Patienten in den Arzt untergräbt. Wenn die Patienten den Verlust des Führerscheins befürchten müssen, würden sie dem Arzt den Schwindel verheimlichen.
Der Expertin ist aus eigener Erfahrung nur ein einziger Fall bekannt, in dem es infolge von Schwindel zu einem Verkehrsunfall kam. Der Patient litt unter einer seltenen „room tilt illusion“, einer plötzlich um 90 Grad gekippten visuellen Wahrnehmung. Er konnte laut Professor Huppert sein Motorrad gerade noch an den Straßenrand fahren, bevor er umkippte und sich leicht verletzte.
D. Huppert und T. Brandt:
Schwindel, von der Fahreignung mit Führerschein zum Führerschein ohne Fahreignung: Sind die aktuellen Leitlinien gerechtfertigt?
Laryngo-Rhino-Otologie 2019; 98 (10); S. 674–684
Pressemitteilung der Thieme Gruppe