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Gerichtsgutachten → „Gegengutachten“ → „Obergutachten“: Ist das korrekt?

Bei Gerichtsverfahren (nicht nur) in der privaten Personenversicherung kommt es in strittigen Fällen – gerade bei hohen Summen – oft zu folgendem Ablauf:

  • Vom Gericht wird ein Gutachter beauftragt, der ein Gerichtsgutachten erstellt.
  • Die Partei, die mit diesem Gutachten nicht einverstanden ist, legt dann ein „Gegengutachten“ vor (ggf. auch beide Parteien und ggf. auch mehrere „Gegengutachten“).
  • Zu diesem (bzw. diesen) „Gegengutachten“ nimmt der Gerichtsgutachter Stellung.
  • Falls es dann keine eindeutige Beurteilung gibt, veranlasst das Gericht ein „Obergutachten“, um den „Gutachterstreit“ zu entscheiden.
  • Zu diesem „Obergutachten“ nehmen dann die Parteien erneut Stellung mit weiteren „Gegengutachten“ ...
  • Dazu einige grundsätzliche Anmerkungen:

    Medizinische Gutachter sollten sich an die Vorgabe der AWMF-Leitlinie: Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung (AWMF-Registernummer: 094/001) halten. Demnach sind alle Gutachter – auch diejenigen, die im Auftrag der beklagten Versicherung bzw. des Klägers ein Parteigutachten erstatten – zu Unparteilichkeit, d. h. zu „medizinisch-wissenschaftliche Objektivität und Neutralität“, verpflichtet. Der Gutachter „darf weder Interessenvertreter des Auftraggebers noch des zu Begutachtenden sein“.

    Der Begriff „Gegengutachten“ ist somit definitionsgemäß falsch, da es – bei der grundsätzlich zu fordernden Unparteilichkeit und Neutralität aller Gutachter – kein „Dagegen“ geben kann (was selbstverständlich nicht impliziert, dass verschieden Gutachter zu gleichen Beurteilungen kommen müssen). Stattdessen sollte der sachlich richtige und neutrale Begriff Parteigutachten verwendet werden.

    Problematisch ist zudem der Begriff „Obergutachten“: Impliziert er doch, dass der „Obergutachter“ höher qualifiziert ist als die vorherigen Gutachter, die demnach definitionsgemäß „Unter“-Gutachter wären. Tatsächlich gibt es durchaus Fälle, in denen das „Obergutachten“ deutlich geringere Qualität hat als zumindest eines der vorherigen Gutachten. Somit wäre ein Begriff wie Ergänzungs- oder Zusatzgutachten sinnvoll und sachgerecht.

    Zudem kann es nicht Aufgabe eines „Obergutachtens“ sein, einen „Gutachterstreit“ beizulegen. Stattdessen ist es primär Aufgabe des Richters, einander widersprechende Argumente bzw. Schlussfolgerungen verschiedener Gutachter aus juristischer Sicht zu prüfen und dann eine Entscheidung zu treffen. Sollte ihm dies nach den vorliegenden Gutachten nicht möglich sein, kann er selbstverständlich ein weiteres (Ergänzungs-/Zusatz-)Gutachten einholen, in welchem zu diesen Ausführungen aus kritisch-wissenschaftlicher Sicht Stellung genommen wird.

    G.-M. Ostendorf, Wiesbaden