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Gutachten darf nicht auf ungeprüften Behauptungen beruhen

Nicht objektiv zu überprüfenden Schilderungen und Feststellungen einer Person kommen kein Beweiswert zu; sie dürfen vom medizinischen Sachverständigen in seinem Gutachten daher nicht als gegeben unterstellt werden, erklärt das Oberlandesgericht (OLG) Saarbrücken mit Urteil vom 31.7.2024 (AZ: 5 U 102/23), über welches die Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“ berichtet.

Zu entscheiden war ein Fall zur Kfz-Kasko-Versicherung: Nach einem von ihm verschuldeten Autounfall hatte der Kläger die Unfallstelle verlassen und war dort nicht von der Polizei anzutreffen gewesen. Diese hatte im bzw. neben dem Auto des Klägers zwei leere Bierkästen und eine leere Tablettenpackung gefunden.

Am Tag nach dem Unfall hatte sich der Kläger um 8:45 bei einem Allgemeinmediziner an seinem Wohnort vorgestellt und diesem geschildert, am Vorabend in einen Autounfall als angeschnallter Fahrer verwickelt worden und „so geschockt“ gewesen zu sein, dass er „panikartig aus dem Fahrzeug geflüchtet und querfeldein gelaufen“ sei. Danach habe er sich „an nichts mehr erinnern können“, bis er am nächsten Morgen „in der Wohnung seiner Freundin aufgewacht“ sei.

Der Kaskoversicherer hatte eine Leistung für den Fahrzeugschaden abgelehnt, da er bei einer vorsätzlichen Verletzung der Aufklärungsobliegenheit durch vorzeitiges Verlassen der Unfallstelle leistungsfrei sei. Das vorher zuständige Landgericht hatte einer Klage gegen diese Entscheidung – nach Einholen eines Sachverständigengutachtens – teilweise stattgegeben.

Die hiergegen gerichtete Berufung der beklagten Kaskoversicherung beim OLG war jedoch erfolgreich: Durch das Verlassen der Unfallstelle hatte der Kläger Feststellungen vor Ort durch die Polizei, etwa zum Alkohol- und Drogenkonsum, von vornherein vereitelt und es dadurch dem Versicherer unmöglich gemacht, seine Eintrittspflicht auch mit Blick auf mögliche Risikoausschlüsse zu prüfen.

Die Behauptung des Klägers, er habe beim Verlassen der Unfallstelle nicht willentlich und schuldhaft gehandelt, war bei zutreffender Würdigung aller Umstände nicht erwiesen, erklärte das OLG, und kritisierte dabei das für die Vorinstanz abgegebene medizinische Sachverständigengutachten: Die Berufung beanstandete vollkommen zu Recht, dass die in der Vorinstanz im Wesentlichen auf die abschließende Entscheidung der Sachverständigen gestützten Feststellungen in entscheidenden Punkten auf nicht überprüfbaren schriftsätzlichen Behauptungen des Klägers fußten, über dessen konkretes Verhalten und dessen körperliche und geistige Verfassung unmittelbar nach dem Unfall nichts bekannt war.

Es existieren keine belastbaren Erkenntnisse, insbesondere keine ärztlichen Feststellungen, zum konkreten Verhalten oder zum Zustand des Klägers unmittelbar nach dem Unfall. Das insoweit allein in Betracht kommende ärztliche Attest des Allgemeinmediziners beschreibt die Vorstellung des Klägers am frühen Morgen nach dem Unfall. Es gibt lediglich ungeprüfte Schilderungen des Klägers von vermeintlichen Erlebnissen sowie von ihm geklagten Beschwerden wieder, denen weithin kein objektives Korrelat gegenübersteht.

Dazu gehören die – im nachfolgenden Sachverständigengutachten ohne weiteres unterstellte – Erzählung, er sei „panikartig aus dem Fahrzeug geflüchtet und querfeldein gelaufen, danach könne er sich an nichts mehr erinnern, bis er am Morgen in der Wohnung seiner Freundin aufgewacht sei“ und die – vom Landgericht verkürzend mit „Schmerzen im Brustbereich“ als Anknüpfungstatsache vorgegebene – Behauptung eines „leichten Druckschmerzes“ bei im Rahmen der Untersuchung nicht erkennbaren Prellmarken und unauffälligem Befund für Herz, Lunge und Brustkorb.

Diesen nicht objektiv überprüfbaren Schilderungen und Feststellungen kommen kein Beweiswert zu; sie hätten dementsprechend auch im Gutachten nicht als gegeben unterstellt werden dürfen, betonte das OLG.

Die von der Sachverständigen – als Voraussetzung ihrer abschließenden Einschätzung – genannte Diagnose einer „akuten Belastungsreaktion (ICD-10: F43.0)“ ist nämlich (wie im Gutachten ausgeführt) nicht allein davon abhängig, dass der Kläger „eine außergewöhnliche psychische oder physische Belastung“ – hier in Gestalt eines unstreitigen Verkehrsunfalles – erlebt hat. Vielmehr ist nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen weiter erforderlich, dass auf die außergewöhnliche Belastung unmittelbar der Beginn der Symptome – hier: Überaktivität mit Fluchtreaktion – folgt.

Für ein solches Verhalten des Klägers nach dem Unfall existieren jedoch keine objektiven Belege. Ebenso unbewiesen sind auch die von der Sachverständigen unterstellten weiteren Symptome wie „Thoraxschmerzen (evtl. zusätzlich zu der von dem Sicherheitsgurt verursachten Prellung), unangemessene oder sinnlose Überaktivität mit Zurücklassen seiner Brieftasche und Verwirrtheit“, für die kein objektives Korrelat gefunden werden konnte.

Die Annahme der Sachverständigen, es liege bei all dem eine Diagnose vor, die akut und kurzfristig zu einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand geführt habe, ist zwar für sich genommen schlüssig und einsichtig; sie kann für den vorliegenden Fall nicht fruchtbar gemacht werden, weil der zugrunde zu legende Sachverhalt ein anderer ist und die dafür notwendigen Anknüpfungstatsachen nicht in der Gänze beweissicher hergibt, erklärte das OLG. Dasselbe gelte für die von der Sachverständigen weiter geäußerte Verdachtsdiagnose einer Commotio cerebri.

Versicherungsrecht, 75. Jg., Heft 23 vom 1. Dezember 2024, S. 1536-1541

G.-M. Ostendorf, Wiesbaden