Auf die Tatsache, dass medizinische Sachverständige, die alternativmedizinische Behandlungen begutachten sollen, oft Schwierigkeiten haben, sich über die Trends in diesem Bereich auf dem Laufenden zu halten, hat der Autor vor einem Jahr in dieser Zeitschrift hingewiesen und den Besuch entsprechender Fachmessen empfohlen (Heft 3/2020, S. 143).
Was aber tun in Zeiten der Pandemie und des Lockdowns, in denen größere Veranstaltungen wie Fachmessen nicht mehr durchgeführt werden? Hier bietet sich die Informationssuche über das Internet an, etwa zu entsprechenden, online durchgeführten Tagungen wie dem 140. ZAEN-Kongresses vom 17. bis 20. März 2021. Der ZAEN – Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren und Regulationsmedizin e.V. – ist schließlich europaweit der größte ärztliche Fachverband für Naturheilverfahren und Komplementärmedizin. Die Referenten beschreiben auf der Kongress-Homepage den Inhalt ihrer Kurse (https://kongress.zaen.org/programm/, Zugriff am 18.3.2021).
Phytotherapie und Vitamine zur Behandlung von Corona
Dort behauptet etwa der Internist und pharmazeutische Mediziner Michael Dirk Wagner aus Binningen zur aktuellen Pandemie, dass „grundsätzlich [...] als komplementärmedizinische Verfahren pflanzliche/orthomolekulare Stoffe in Frage“ kommen, „die einerseits das Immunsystem stärken, aber auch zur Behandlung einer manifesten Covid-19 Erkrankung geeignet“ seien.
Angesichts dieser doch ausgesprochen fragwürdigen Behandlungsempfehlungen ist beispielsweise die Kritik von Jürgen Schölmerich, ehemaliger Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Frankfurt, auf dem Kongress „Viszeralmedizin 2019“ (Oktober 2019) interessant: Demnach ist das Konzept der Orthomolekularen Medizin, wonach chronische Krankheiten auf eine Unterversorgung mit sogenannten Mikronährstoffen zurückzuführen seien und durch die Gabe hoher Vitamindosen, kombiniert v. a. mit Mineralstoffen und Spurenelementen, behandelt werden sollen, „schlichtweg Unsinn“ – was umso mehr für die Behandlung von COVID-19 gilt.
Mikrobiologische Stuhluntersuchung bei Erschöpfung
Als „eine aussagekräftige Diagnostik [...], auf deren Basis dann eine erfolgversprechende Therapie eingeleitet werden“ könne, empfiehlt der Internist Michael Schreiber aus Aystetten bei einem Erschöpfungssyndrom (!) „eine Stuhluntersuchung [...] auf die Funktion der Verdauung“, bei welcher angeblich „die Schlüsselorganismen des Mikrobioms analysiert“ werden. Auf der Basis einer solchen Untersuchung könne dann „eine ausführliche Therapie-Empfehlung ausgesprochen werden mit modernen mikrobiologischen Medikamenten, speziellen abgestimmten Ernährungsempfehlungen und Rezeptur von orthomolekularen Produkten“.
Tatsächlich sind jedoch Aussagen über Erkrankungen mit einer solchen mikrobiologischen Untersuchung der normalen Darmflora, des Mikrobioms (sog. Stuhlfloraanalyse), nach bisherigem Kenntnisstand nicht möglich.
So erklärte Viola Andresen aus Hamburg auf 14. Allgemeinmedizin-Update-Seminar (September 2020) und ebenso auf dem auf dem 12. Gynäkologie-Geburtshilfe-Update-Seminar (Februar 2021), es sei problematisch, dass seit vielen Jahren von einer wachsenden Zahl von Anbietern Stuhluntersuchungen zur Analyse der residenten gastrointestinalen Mikrobiota und zur Detektion einer möglichen Dysbiose angeboten werden. Solche Darmökogramme“ haben jedoch für die klinische Diagnostik selbst gastrointestinaler Erkrankungen aktuell keinen Stellenwert.
TCM – das Konzept der „Lebensenergie Qi“ zur „Meridianstärkung“
Häufig finden sich auch Behandlungskonzepte nach dem Konzept der traditionellen chinesischen Medizin (TCM). So gibt der Zahnarzt Bodo Wettingfeld aus Arnsberg an, dass nach diesem Konzept und seiner Erfahrung „jedes Symptom ein Schrei des Organismus nach fließender Energie“ sei, da angeblich aus der TCM-Theorie bekannt sei, „dass die Lebensenergie Qi sich über das Meridiansystem im Körper“ verteile „und ihm auf diese Weise Lebendigkeit“ schenke. Ziel der Behandlung mit „meridianstärkenden Behandlungsstrategien“ (so der Titel des Kurses) sei es, „die Unfreiheit oder Hinderung, sprich die Dysbalance im Energiekreislauf, aufzuspüren und dann Methoden anzuwenden, mit denen es möglich“ sei, „die gefundenen energetischen Defizite auszugleichen“.
Tatsächlich hat aber der damals wohl renommierteste deutschsprachige Akupunkteur, der Österreicher Johannes Bischko, bereits vor Jahrzehnten festgestellt, dass 1983 auf dem Weltkongress für wissenschaftliche Akupunktur in Wien „die alte, klassische Form der Akupunktur [...] mit Energie, 5-Elementenlehre, Wandlungsphasen etc. eigentlich zu Grabe getragen“ worden sei – was jedoch von TCM-Medizinern seitdem offenbar konsequent ignoriert wird.
Vor einer unkritischen Idealisierung traditionelle Medizinsysteme wie der TCM, welche einer historisch genaueren Betrachtung nicht standhält, hat zudem sogar der Präsident des ZAEN Rainer Stange aus Berlin in einem Editorial der „Zeitschrift für Komplementärmedizin“ (zkm; Heft 6/2018) gewarnt und darauf hingewiesen, dass die Rückbesinnung auf traditionelle Medizin bei uns eher in einer Unzufriedenheit über die leicht verfügbare westliche Medizin wurzelt.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden