Ist die Immuntherapie einer Multiplen Sklerose mit einem Biologikum eine Schutzimpfung? Diese – nicht nur auf den ersten Blick ungewöhnliche – Frage hatte das Oberlandesgericht (OLG) Zweibrücken zu entscheiden, welches dazu sogar ein Sachverständigengutachten einholte. Über das Urteil vom 8.5.2020 (AZ: 1 U 73/18), und dessen Begründung berichtet die Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“.
Im zu entscheidenden Fall ging es um die Klage eines Versicherten, der Leistungen aus seiner privaten Unfallversicherung wegen eines behaupteten Impfschadens begehrte. Nach den einschlägigen AUB (Allgemeine Unfallversicherungsbedingungen) 2012 sind auch Impfschäden, die durch „Schutzimpfungen“ hervorgerufen sind, mitversichert.
Der Versicherte war wegen einer schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose (MS) mit Infusionen des Biologikums Natalizumab behandelt worden. Als Nebenwirkung dieser Behandlung war es zu einer multifokalen Leukenzephalopathie (PML) gekommen, einer seltenen opportunistischen Gehirninfektion, welche zu einer vollständigen linksseitigen Lähmung sowie zu bleibenden, starken Gleichgewichtsstörungen führte. Nach Ansicht des Klägers handelte es sich dabei um einen bleibenden Impfschaden.
Die Klage war bereits vom vorher zuständigen Landgericht als unbegründet abgelehnt worden, was auch das Oberlandesgericht bestätigte:
Nach allgemeinem Sprachgebrauch handelt es sich bei einer aktiven oder auch passiven (Schutz-)Impfung um die Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer übertragbaren) Krankheit zu schützen. Kennzeichnend für eine Impfung ist demnach die Aktivierung des Immunsystems bzw. die (künstliche) Erzeugung einer Immunität zur Vorbeugung einer Infektionskrankheit.
Bei der beim Kläger angewandte Therapie mit Infusionen von Natalizumab handelte es sich dagegen um eine therapeutische Heilmaßnahme, welche keinem Versicherungsschutz durch die private Unfallversicherung unterliegt, erklärte das OLG. Auch wenn es sich bei Natalizumab um Antikörper handelt, ist eine jahrelange Behandlung mit diesem Präparat keine (passive) Schutzimpfung wie etwa die (einmalige!) Applikation von Tetanus-Immunglobulin.
Entsprechend führte der vom Gericht beauftragte Sachverständige aus, dass auch aus ärztlicher Sicht die beim Kläger eingesetzte Immuntherapie keine Impfung darstellt. Er erläuterte, dass der Wirkstoff Natalizumab die chronische autoimmune Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks bei MS dadurch reduziert, dass das Eindringen von Leukozyten in den Liquorraum verhindert bzw. reduziert wird.
Diese (therapeutisch gerade angestrebte) immunmodulatorische bzw. immunsuppressive Wirkung kann jedoch zu Infektionen führen, die bei einem intakten Immunsystem nicht möglich wären. So war es beim Kläger zu einem Befall der weißen Hirnsubstanz mit JC-Viren (John-Cunningham-Viren) gekommen mit der Folge einer multifokalen Leukenzephalopathie (PML) – eine zwar seltene, aber bekannte schwerwiegende Nebenwirkung der Natalizumab-Therapie. Damit stellt die Immuntherapie mit Natalizumab gerade das Gegenteil einer Schutzimpfung dar.
(Versicherungsrecht 72 (2021) 20: 1278-1280)
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden