Eine einfache Distorsion der Halswirbelsäule (HWS) – ohne nachgewiesene längerfristige Beschwerden und dauernde Schäden – ist mit einem gezahlten Schmerzensgeld in Höhe von 650.- Euro angemessen ausgeglichen, erklärte das Oberlandesgericht (OLG) Schleswig mit Beschluss vom 1.2.2023 (AZ: 7 U 156/22), über welches die Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“ berichtet.
Für Fragen der unfallbedingten, individuellen Belastbarkeit und der konkreten körperlichen Beeinträchtigungen ist im Rahmen eines interdisziplinären Gutachtens nicht der technische, sondern der medizinische Gutachter zuständig. Unter Zugrundelegung der vom technischen Gutachter ermittelten kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung (Fahrzeuglängsrichtung max. rd. 16,3 km/h; Fahrzeugquerrichtung ca. 4,3 km/h) sowie der festgestellten biomechanischen Belastungen (mittlere Verzögerung in Längsrichtung von maximal 4,1 g und mittlere Beschleunigung in Querrichtung von maximal 1,1 g) kann aus medizinischer Sicht eine Verletzungsmöglichkeit an der Halswirbelsäule sowie des Brustkorbes mit an Sicherheit grenzender bzw. überwiegender Wahrscheinlichkeit verneint werden. Eine Verletzungsmöglichkeit der Schulter (Rotatorenmanschette) ist unter Berücksichtigung des Unfallmechanismus ebenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, so die Leitsätze des Urteils.
Besonders interessant sind die (vom Gericht zitierten) Ausführungen des orthopädischen Gerichtsgutachters: Dieser hat zunächst ausgeführt, dass verletzungsfördernde Faktoren in der Person des Klägers nicht bestanden haben. Dabei hat der Gutachter sich mit der vorhandenen Bildgebung, früheren Verletzungen und bestehenden degenerativen Veränderungen auseinandergesetzt und auch die Konstitution des Klägers (187 cm, 108 kg) berücksichtigt. Unter Zugrundelegung der vom technischen Gutachter ermittelten maximalen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung in Fahrzeuglängsrichtung sei eine Verletzungsmöglichkeit für die Halswirbelsäule mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu verneinen. Das gleiche gelte für die obere Grenze der Beschleunigung in Fahrzeugquerrichtung sowie für die Kombination dieser beiden biomechanischen Belastungen.
Eine Verletzung des Brustkorbs könne bei Zugrundelegung der unteren Grenze der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung zumindest mit überwiegender Wahrscheinlichkeit verneint werden, zumal eine Gurtprellmarke objektiv nicht befundet und vom Kläger im Rahmen der Untersuchung durch den Gutachter auch verneint worden sei. Gehe man von der oberen Grenze der kolliionsbedingten Geschwindigkeitsänderung aus, wäre eine Verletzungsmöglichkeit zwar grundsätzlich gegeben. Allerdings sei im erstbehandelnden Krankenhaus kein Thoraxkompressionsschmerz beschrieben worden, was gegen eine Thoraxprellung spreche. Soweit die Hausärztin eine Thoraxprellung diagnostiziert habe, fehle es an einem entsprechenden Befund, der diese Diagnose begründen würde. Deshalb sei letztlich nicht mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit von einer Verletzung des Thorax im Sinne einer Thoraxprellung auszugehen.
Schließlich sei auch eine Verletzungsmöglichkeit der Schulter (Rotatorenmanschette) unter Berücksichtigung des Unfallmechanismus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Von einer Stauchungsbelastung sei nach den Angaben des Klägers (Hände am Lenkrad und Ellenbogen etwa zu 45° gebeugt) nicht auszugehen; die einwirkende biomechanische Belastung werde hierdurch deutlich reduziert und es sei nicht von einer nennenswerten biomechanischen Belastung auf das linke Schultergelenk auszugehen. Eine Rotatorenmanschettenruptur könne selten auch traumabedingt auftreten; in der Regel entwickele sie sich jedoch spontan im Rahmen alltäglicher Belastungen, da sie einem ausgeprägten altersbedingten Verschleiß bei primär ungünstigen Perfusionsverhältnissen unterliege.
Der als Zeuge vernommene behandelnde Arzt hat zudem im Wesentlichen bestätigt, dass die Schulterverletzung altersbedingt typischerweise auch ohne Unfall auftrete; man sehe dies bei über 50-Jährigen „sehr häufig auch ohne konkreten Anlass“.
Das Oberlandesgericht kam – ebenso wie das vorher zuständige Landgericht – zu dem Ergebnis, der Kläger habe nicht den Beweis geführt, dass er infolge des streitgegenständlichen Unfalls die behaupteten erheblichen Verletzungen und längerfristigen Beschwerden erlitten habe. Der medizinische Gutachter habe auf Grundlage der Berechnungen des technischen Gutachters und unter Berücksichtigung sämtlicher Befunde unfallkausale Verletzungen nicht mit ausreichender Sicherheit nachvollziehen können. Die tatsächlich erlittenen Schmerzen und Beeinträchtigungen seien durch das gezahlte Schmerzensgeld in Höhe von 650.- Euro jedenfalls angemessen ausgeglichen worden, so das OLG.
(Versicherungsrecht 74 (2023) 17: 1126-1127)
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden