Nachdem Schmerz in der Medizin bisher ausschließlich als Symptom (bei zahlreichen Krankheitsbildern) gesehen wurde, sind jetzt chronische (mindestens drei Monate anhaltende) Schmerzzustände in die von der WHO zum 1.1.2022 in Kraft gesetzte ICD-11 als eigenständige Krankheitsgruppe (MG30) aufgenommen worden. Unterschieden wird dabei zwischen sekundären Schmerzzuständen, bei denen eine nozizeptive oder neuropathische Genese nachgewiesen werden kann, und primären Schmerzzuständen, denen eine solche periphere Verursachung fehlt. Letztere gehen klinisch meist mit einer psychischen und/oder sozialen Problematik einher.
Grundlage ist ein neues Verständnis der Funktion des Gehirns: Während dieses bis vor kurzem noch als ein auf Sinneseindrücke reagierendes Organ verstanden wurde, wird es heute als ein aktives Organ gesehen, das sich nicht auf eine Reizreaktion beschränkt, sondern Vorhersagen und Hypothesen von Sensationen generiert.
Auch ohne peripheren Input kann es daher passieren, dass das Gehirn aufgrund kontextueller Verknüpfungen Schmerzen zentral generiert; dies wird im ICD-11 als „noziplastisch“ bezeichnet. Diese Zusammenhänge sind den Betroffenen meist nicht bewusst und sollten im Rahmen einer bio-psycho-sozialen Diagnostik und Therapieplanung aktiv exploriert werden, fordern die Autoren.
Die neue Klassifikation führt auch dazu, dass das Fibromyalgie-Syndrom nicht nur aus der Gruppe der rheumatologischen Erkrankungen verschwunden ist, sondern der Begriff sich im ICD-11 überhaupt nicht mehr findet. Subsummiert wird diese multilokuläre Schmerzsymptomatik künftig als chronisches ausgedehntes Schmerzsyndrom („chronic widespread pain“, CWP) bei den primären Schmerzzuständen (MG30.01). Diese Zuordnung priorisiert eine zentrale Schmerzgenese und betont die Bedeutung psychischer und sozialer Faktoren.
Anzumerken ist, dass dieses neue Konzept auch für die Begutachtung chronischer Schmerzen von besonderer Relevanz ist. Die Konsultationsphase der überarbeiteten S2k-Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen (“Leitlinie Schmerzbegutachtung“) endete gerade.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden