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Problematik medizinischer Leitlinien am Beispiel der neuen MS-Leitlinie

Die – auch aus gutachtlicher Sicht relevante – Problematik medizinischer Leitlinien kommentierte Volker Limmroth von der Klinik für Neurologie und Palliativmedizin am Klinikum Köln-Merheim anhand der aktuell vorgeschlagenen Leitlinie zur Multiplen Sklerose auf dem 14. Neurologie-Update-Seminar am 18. und 19. März 2022 (Livestream):

Der Sinn von Leitlinien sei eigentlich, behandelnden Ärzten einen therapeutischen Rahmen zu geben, damit aber auch einen Sicherheitskorridor bei den therapeutischen Entscheidungen zu schaffen. Leitlinien sollten nicht kompliziert sein und müssen auch nicht jede erdenkliche Situation regeln.

Ob es sinnvoll sei, Leitlinien abzufassen, die 160 Seiten lang sind, könne man lange diskutieren. Sie dienen dann aber nur noch als Nachschlagewerk und werden unübersichtlich. Umfangreiche Leitlinien werden aller Erfahrung nach auch schwerfällig. In Bereichen, die sich schnell weiterentwickeln und in denen Leitlinien eigentlich jährlich angepasst werden müssten (typisches Beispiel ist die Multiple Sklerose), laufen Leitlinien sehr schnell Gefahr, bereits kurz nach Erscheinen wieder veraltet zu sein.

Die Autoren von umfangreichen Leitlinien setzen sich damit einem spürbaren Druck aus, die selber verfassten Leitlinien ständig überarbeiten zu müssen. Bei der MS- Leitlinie sei die peinliche bis ärgerliche Situation entstanden, dass sie über Jahre hinweg nicht neu gefasst worden und veraltet gewesen sei. Das sei auch juristisch ärgerlich, weil bei strittigen Fragen, die vor Gericht landen, der Arzt im Nachteil sei, der vielleicht nach neuesten Studiendaten richtig behandelt habe, während Juristen aber die Leitlinie heranziehen und hier das vermeintlich Richtige als Maßstab nehmen, das aber eigentlich veraltet sei.

Die vorgeschlagene S2k-Leitlinie zur Multiplen Sklerose sei langsam und spät gekommen und schlage nun Strukturen vor, die in keinem anderen Land Europas Verwendung finden. Das müsse zwar nicht zwingend falsch sein, sei aber mit hoher Wahrscheinlichkeit klinisch nicht sinnvoll.

Die Wiedereinführung von einer stufenweisen eskalierenden Therapie sei biologisch gesehen ein Schritt rückwärts: Ein stufenweises System sei dann sinnvoll, wenn die deutlich wirksameren Therapien ein ungünstigeres Nebenwirkungsprofil haben oder Nebenwirkungen noch nicht gut evaluiert seien. Das ungünstigere Nebenwirkungsprofil haben einige Substanzen zwar zum Teil, diese seien aber inzwischen gut bekannt. Modernes Monitoring könne potentielle Nebenwirkungen heute früh erkennen und diese verhindern.

In der modernen MS-Therapie habe dieses Argument also keine echte Berechtigung mehr. Daher sei bereits vor gut zehn Jahren das System der Stufentherapie verlassen worden – auch im Hinblick darauf, dass zukünftig neue Biomarker die Aktivität der Erkrankung besser charakterisieren können und damit eine individuelle, hocheffektive Therapie möglich werde.

Zusammengefasst sei die aktualisierte S2k-Leitlinie kein großer Wurf, sondern enge die therapeutische Freiheit ein und erfordere einen erhöhten Dokumentationsaufwand, wenn von Ihr abgewichen werde. Diese Leitlinie müsste zudem eigentlich inzwischen auch schon wieder überarbeitet werden, da seit ihrer Publikation Ende 2020 schon wieder 6 neue Präparate auf den Markt gekommen seien und die Leitlinie somit schon wieder veraltet sei.

Hemmer, B. et al. (2021) Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien; AWMF-Registernummer: 030/050.

G.-M. Ostendorf, Wiesbaden

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