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Schlechte Qualität vieler Studien (nicht nur) zum Tinnitus

Die mangelhafte Qualität einer „Publikationsflut“ zum Tinnitus kritisierte Gerhard Hesse, Ärztlicher Direktor der Tinnitus-Klinik am Krankenhaus Bad Arolsen, auf dem 17. HNO-Update-Seminar am 1. und 2. Dezember 2023 in Mainz:

Es handelt sich oft um äußerst schlecht gemachte Studien, teilweise wohl auch um gefälschte Daten, sowie um Peer-Reviews, die umgangen oder aber sehr schlecht durchgeführt werden. Zudem werden bei renommierten Journalen abgelehnte Artikel postwendend bei anderen, weniger genau prüfenden Organen eingereicht. Das ist bei der Vielzahl von Publikationsorganen, die gegen Geld praktisch alles publizieren, online-access dafür bieten und damit auch häufig den Impactfaktor künstlich hochpuschen, teilweise sehr leicht möglich.

Gerade bei chronischen Erkrankungen mit einer Vielzahl von teilweise auch alternativen Behandlungsmöglichkeiten häufen sich diese unseriösen Publikationen aus allen Ländern der Erde. Zum ersten Mal ist im Jahr 2023 ein Artikel der Zeitschrift Evidence-Based Complementary and Alternative Medicine von der Verlagsleitung aus mehreren Gründen offiziell zurückgezogen worden, u. a. wegen unsauberer Zitate und Manipulationen mit dem Peer-Review [1].

Dieser Artikel war 2021 publiziert worden und hatte Beziehungen zwischen Syndromen der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) und chronischem Tinnitus festzustellen versucht [2]. Die Autoren aus mehreren Universitäten Chinas hatten vom Verlag sogar die Möglichkeit bekommen, hierzu Stellung zu nehmen, dies jedoch nicht wahrgenommen.

Derartige komplette Rücknahmen von Artikeln sind sicher bislang nicht sehr häufig gewesen und gleichzeitig ein sehr wichtiger und guter Schritt, kommentierte Hesse. Wesentlich häufiger werde aber die Praxis ausgeübt, Manuskripte, die in einem renommierten Publikationsorgan abgelehnt wurden, sofort und komplett unverändert in einem anderen Organ (gegen Gebühr und open-access) zu veröffentlichen. In seiner eigenen Praxis als häufig angefragter Peer-Reviewer sei das mehrfach vorgekommen und auch vereinzelt von ihm mit Leserbriefen kommentiert worden.

Sicher sei es verständlich, dass gerade in universitären Einrichtungen sehr stark auf Publikationstätigkeit gedrungen werde, zumal diese auch gerade bei Drittmittelstellen von Geldgebern gefordert werde. Gleichwohl dürfe darunter auf keinen Fall die Sorgfalt leiden, sowohl was das Erstellen der Studien angehe als auch was die Reviewer-Tätigkeit betreffe. Erklärbar werde das teilweise dadurch, dass tatsächlich unglaublich viele Peer-Reviews angefordert werden, wobei eine genaue Prüfung von wissenschaftlichen Publikationen tatsächlich sehr viel Zeit in Anspruch nehme und oft auch erforderlich mache, zitierte Artikel und vergleichbare Studien dieser Arbeitsgruppen, so sie denn erkennbar seien, hinzuzuziehen.

Besonders weil mit den unlängst publizierten Möglichkeiten über künstliche Intelligenz komplett „gefakte“ Artikel zusammengestellt werden können, müssen Mittel und Wege gefunden werden, die wissenschaftliche Arbeit besser zu kontrollieren und zu prüfen, forderte Hesse. Gelinge dies nicht, werde Wissenschaft, zumindest zum Teil, unbrauchbar und evtl. sogar irreführend und gefährlich missbraucht.

Kommentar aus gutachtlicher Sicht

Die von Hesse thematisierte häufig schlechte Qualität von Studien beschränkt sich durchaus nicht nur auf den Tinnitus. So erklärte etwa Nicole Skoetz, Leiterin der Arbeitsgruppe Evidenzbasierte Medizin an der Universitätsklinik I für Innere Medizin in Köln, auf einer Fortbildungsveranstaltung des IVM zur Begutachtung des Post-COVID-Syndroms am 14. Juni 2023 in Frankfurt, dass wir es bei COVID-19 nicht nur mit einer Pandemie, sondern auch mit einer „Infodemie“ zu tun hatten. Die extrem zahlreichen Studien zu dieser Thematik wiesen nicht nur häufig gravierende Schwächen auf, sondern waren in ca. 0,5 % bis 1 % der Fälle sogar gefälscht!

Diese Problematik ist auch aus Sicht der Begutachtung von Bedeutung. So wird in der Leitlinie „Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung“ (AWMF-Registernummer 094/001) gefordert, dass der Gutachter inhaltlich an die medizinisch-wissenschaftlichen Standards gebunden ist und dass die gutachtliche Bewertung des Sachverhalts sich nach dem – kritisch reflektierten – aktuellen Kenntnisstand in der medizinischen Wissenschaft zu richten hat. Wenn aber der „aktuellen Kenntnisstand in der medizinischen Wissenschaft“ durch fehlerhafte, schlecht gemachte und teilweise sogar gefälschte Studien massiv beeinträchtigt ist, erweist sich die Begutachtung als sehr problematisch.

  • Evidence-based Complementary and Alternative Medicine, E.C. (2023). Retracted: Analysis of clinical characteristics and psychoacoustic indexes in different TCM syndromes of idiopathic tinnitus. Evid Based Complement Alternat Med, 9843965.
  • Niu, Y., Ning, J., Zhao J., Fang, C. (2021). Analysis of clinical characteristics and psychoacoustic indexes in different TCM syndromes of idiopathic tinnitus. Evid Based Complement Alternat Med, 2446357.
  • G.-M. Ostendorf, Wiesbaden