Die Bedeutung einer korrekten Aufklärung, zumindest jedoch einer Grundaufklärung, vor einem ärztlichen Eingriff betonte der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 28.5.2019 (AZ: VI 27/17, Celle), über welche die Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“ berichtet. Ohne eine Grundaufklärung über Art und Schwere des Eingriffs haftet der Arzt sogar für nicht aufklärungspflichtige Risiken, falls sich diese realisieren.
Vorgeschichte
Geklagt hatte eine Patientin, die wegen eines Lendenwirbelsäulensyndroms im Segment S 1 mit einer Spritzentherapie behandelt worden war. Nach zwei komplikationslos verlaufenen Injektionen waren 40 ml eines Lokalanästhetikums zusammen mit 20 mg Triamcinolon präsakral injiziert worden. Seitdem litt die Klägerin unter Myoklonien. Sie musste sich mehrfachen – auch stationären – Behandlungen unterziehen, war aufgrund ihrer Erkrankung arbeitsunfähig und in weiten Teilen ihrer Lebensführung eingeschränkt.
Das zunächst zuständige Landgericht hatte den Krankenhausträger und die für ihn tätigen beklagten Ärzte wegen Behandlungsfehlern zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 2.500 Euro verurteilt, die Klage aber im Übrigen abgewiesen.
Auch die Berufung wurde vom Oberlandesgericht (OLG) abgewiesen, obwohl die Klägerin nicht über die Risiken, möglichen Komplikationen oder Belastungen für ihre Lebensführung infolge einer Spritzentherapie aufgeklärt worden war – nicht einmal über eine Meningitis als das schwerste in Betracht kommende Risiko. Somit war diese Behandlung rechtswidrig gewesen. Nach Beurteilung des Sachverständigen seien die Myoklonien als psychogene Reaktion der Klägerin auf die Behandlung im Sinne einer Konversionsneurose anzusehen. Hier habe sich jedoch ein nicht aufklärungspflichtiges Risiko verwirklicht; daher entfalle eine Haftung der Beklagten wegen Schutzzweckerwägungen, entschied das OLG.
Beurteilung des Bundesgerichtshofs (BGH)
Dieses OLG-Urteil hält jedoch der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand, erklärten die Karlsruher Richter mit folgender Begründung:
Die Einwilligung in einen ärztlichen Eingriff kann nur insgesamt erteilt oder verweigert werden. Aus diesem Grund machen Aufklärungsdefizite – unabhängig davon, ob sich ein aufklärungsbedürftiges Risiko verwirklicht oder nicht – den ärztlichen Eingriff insgesamt wegen der fehlenden Einwilligung des Patienten rechtswidrig und führen bei einem Verschulden des Arztes im Grundsatz zu einer Haftung für alle Schadensfolgen.
Haben sich allerdings – wie im hier beurteilenden Streitfall – nur solche Risiken verwirklicht, über welche nicht aufzuklären war, kommt ein Wegfall der Haftung des Arztes für Aufklärungsversäumnisse lediglich dann in Betracht, wenn der Patient wenigstens eine Grundaufklärung über die Art und den Schweregrad des Eingriffs erhalten hat. Diese ist nur dann erteilt, wenn dem Patienten ein zutreffender Eindruck von der Schwere des Eingriffs und von der Art der Belastungen vermittelt wurde, die für seine körperliche Integrität und Lebensführung auf ihn zukommen können. Dazu gehört in aller Regel auch ein Hinweis auf das schwerste in Betracht kommende Risiko, welches dem Eingriff spezifisch anhaftet.
Dabei ist, so der BGH, unter Grundaufklärung jedoch keine vollständige und ordnungsgemäße Risikoaufklärung zu verstehen; vielmehr bleibt die Aufklärung unvollständig und damit fehlerhaft. Die Grundaufklärung vermittelt dem Patienten aber eine allgemeine Vorstellung von dem Schweregrad des Eingriffs und der Stoßrichtung der damit zusammenhängenden Belastungen für seine Lebensführung.
Fehlt es allerdings an einer solchen Grundaufklärung, dann hat der Arzt dem Patienten die Möglichkeit genommen, sich auch gegen den Eingriff zu entscheiden und somit dessen Folgen zu vermeiden. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist im Kern genauso tangiert, als wenn der Arzt den Eingriff vorgenommen hätte, ohne den Patienten um seine Zustimmung zu fragen, erklärte der BGH. Der Arzt muss dann auch haften, wenn sich ein nur äußerst seltenes, nicht aufklärungspflichtiges Risiko verwirklicht hat.
Dass die rechtswidrige Spritzentherapie kausal für die bei der Klägerin eingetretene psychoreaktiven Folgen in Form von Myoklonien war, hatte bereits das vorher zuständige OLG festgestellt. Eine Haftung besteht auch bei psychisch bedingten Folgewirkungen wie einer Konversionsneurose, wie sie bei der Klägerin als dissoziative Bewegungsstörungen in Folge der streitgegenständlichen Behandlung aufgetreten waren. Dies gilt selbst dann, wenn die psychisch bedingten Folgewirkungen auf einer psychischen Auffälligkeit des Verletzten oder in sonstiger Weise auf einer neurotischen Fehlverarbeitung beruhen, wie vom BGH bereits 1985 ausgeführt worden war.
(Versicherungsrecht 70 (2019) 15: 1022–1023)
■ G.-M. Ostendorf, Wiesbaden