Unter dem Label „Umweltmedizin“ hat sich in Deutschland – neben wissenschaftlich fundierten Verfahren – eine Fülle von komplementär- bzw. alternativmedizinischen, oft unseriösen Diagnostik- und Therapieangeboten etabliert, warnt Hanns Rüdiger Röttgers von der Fachhochschule Münster, Fachbereich Sozialwesen, in der Fachzeitschrift „Versicherungsmedizin“.
Umweltbezogene Gesundheitsängste und Beschwerden entstehen in unterschiedlichen Zusammenhängen, wobei neben klassischen psychiatrischen Kontexten auch weltanschauliche Auffassungen von Belang sind. So können Defizite im Verständnis von Grenzwerten und in der Bewertung von Schadstoffkonzentrationen im Niedrigdosisbereich sowie des statistischen Risikobegriffs die Basis für ausgeprägte ängstliche Reaktionen auf eine naturwissenschaftlich fragwürdige
Berichterstattung in den Medien bilden. Gelegentlich münden solche Reaktionen in länger dauernde Entwicklungen ein; die Betroffenen werden zu „Umweltpatienten“.
Problematisch ist die Übernahme eines solchen laienhaften Krankheitsmodells durch Ärzte, sei es aus Unwissen oder aus unreflektierter Zuwendung. Wenn Ärzte sich unzutreffende Krankheitsmodelle wider besseres Wissen zu eigen machen, fördern sie diese Fehlhaltung der Patienten und verstärken die Chronifizierungstendenz.
Eine solche unkritische, dabei verführerisch bequeme Sichtweise, welche ohne Rücksicht auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Vorgehensweisen die laienhaften Kausalitätszuschreibungen der Patienten übernimmt bzw. sie sogar verstärkt, führt zu dubiosen Krankheitskonzepten wie der „Multiple Chemical Sensitivity“ (MCS) oder der „Elektro-/Störfeld-Sensibilität“ und der in ihrem Kontext angebotenen Pseudo-Behandlungen, warnt Röttgers. Eine gut vernetzte Anbieterszene steht bereit (teils aus wirtschaftlichem Interesse, teils auch mit eigener subjektiver Überzeugung), die Patienten als „chronische Umweltkranke“ in Abhängigkeit von ihren Dienstleistungen zu bringen. Das kann zu massiven gesundheitlichen und finanziellen Schäden der Patienten führen.
Tatsächlich hat etwa die aufwändige deutsche „MCS-Verbundstudie“ (2008) nachgewiesen, dass es weder eine abgrenzbare Symptomatik der „Multiple Chemical Sensitivity“ noch nachvollziehbare ätiologische Zusammenhänge gibt. Dagegen ergab die psychiatrische Diagnostik, dass die MCS-Patienten signifikant häufiger unter psychischen Störungen litten als die vergleichbare Allgemeinbevölkerung und dass diese psychischen Störungen den umweltbezogenen Beschwerden meist lange vorausgingen.
Ergänzend erklärt Röttgers die Kostenübernahme für solche problematische komplementär- bzw. alternativmedizinische Verfahren durch Krankenversicherungen als problematisch, da sie diese Methoden in der Wahrnehmung der Patienten dadurch quasi mit einem „Prüfsiegel“ versehe.
(Röttgers H R: Alternative/unseriöse Diagnostik- und Therapieangebote in der Umweltmedizin. VersMed 70 (2018) 3: 140–151)
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden