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Arbeitsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit in der Privatversicherung — “Stief-kinder“ der Begutachtung?

    Nach einem Vortrag auf dem Seminar „Arbeitsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit in der privaten Berufsunfähigkeits- und privaten Krankenversicherung“ des Instituts für Versicherungsmedizin am 7. März 2013 in Frankfurt

    Die Begriffe der Arbeitsunfähigkeit (in der Krankentagegeldversicherung, die zur privaten Krankenversicherung gehört) sowie der Berufsunfähigkeit (in der Berufsunfähigkeitsversicherung, die zur Sparte Lebensversicherung gehört, sowie auch in der Krankentagegeldversicherung) sind von großer sozialpolitischer Bedeutung: So bekommen nur vor dem Jahr 1961 Geborene eine Berufsunfähigkeitsrente von der Deutschen Rentenversicherung; ab 1961 Geborene können nur eine Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung erhalten. Da aber jeder vierte oder fünfte Versicherte vor Erreichen des Rentenalters (das zudem in den nächsten Jahren von 65 Jahren auf 67 Jahre erhöht wird) berufsunfähig wird, gehört die Berufsunfähigkeitsversicherung zu den wenigen existentiell wichtigen Versicherungen, deren besondere Bedeutung auch immer wieder in der Presse hervorgehoben wird.

    Weiter ist darauf hinzuweisen, dass etwa 3,6 Millionen Deutsche eine Krankentagegeldversicherung abgeschlossen haben. Der Beginn des Versicherungsschutzes und die Leistungshöhe sind individuell verhandelbar; auch gibt es keine automatische Aussteuerung nach 18 Monaten.

    Da sich die hier verwendeten Begriffe der Arbeitsunfähigkeit (in der Krankentagegeldversicherung) sowie der Berufsunfähigkeit (in der Berufsunfähigkeitsversicherung bzw. – mit anderer Definition – in der Krankentagegeldversicherung) deutlich von den gleich lautenden der Sozialversicherung unterscheiden, sollte man meinen, dass gerade gutachtlich tätigen Ärzten diese Unterschiede von „offizieller“ Stelle deutlich gemacht werden. Dem ist aber nicht so.

    Versicherungsmedizin im Sinne der privaten Personenversicherung (zur Definition vgl. [5]) ist nicht Bestandteil der Sozialmedizin und wird daher auch bei den Weiterbildungskursen zur Erlangung der Zusatzbezeichnung „Sozialmedizin“ nur am Rande berücksichtigt, wie der Autor als langjähriger Referent zu diesem Thema aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Beim Curriculum „Medizinische Begutachtung“ werden von der Bundesärztekammer für die Krankentagegeldversicherung sogar teilweise falsche Vorgaben gemacht: Weder „Wiedereingliederung“ noch „Leistungen zur Teilhabe“ gehören zum Leistungsumfang der Krankentagegeldversicherung!

    Probleme bereitet aber auch die einschlägige Gutachtenliteratur: In den allermeisten Lehrbüchern zur medizinischen Begutachtung werden die besonderen Bedingungen der privaten Personenversicherung (so auch der Krankentagegeldversicherung und der Berufsunfähigkeitsversicherung) nur sehr knapp abgehandelt. Bei einzelnen Werken finden sich in den einschlägigen Kapiteln sogar gravierende systematische Fehler, etwa in einem (ansonsten fachlich ausgezeichneten) Lehrbuch zur kardiologischen Begutachtung ([1], wie vom Autor vor drei Jahren kritisch kommentiert [4]). Ein Gutachter, der sich auf solche Angaben verlässt, kann zu gravierenden Fehlbeurteilungen kommen.

    Dabei handelt es sich durchaus um eine auch mengenmäßig relevante Problematik. So werden für die Krankentagegeldversicherung sehr häufig Gutachten (sog. KT-Gutachten) erstellt, in aller Regel vermittelt über externe Gutachteninstitute. Nach Angaben von Dörmann [2] werden beispielsweise allein über die IMB Consult GmbH jährlich 25 000 bis 26 000 solche fachärztlichen Nachuntersuchungen (meist an niedergelassene Ärzte) vermittelt.

    Problematisch ist allerdings, dass Ärzte Gutachten erstellen dürfen, ohne eine besondere Qualifikation dafür nachweisen zu müssen. Weder gibt es einen einheitlichen Qualitätsstandard innerhalb der privaten Krankenversicherung für solche KT-Gutachten – was schon aus kartellrechtlichen Gründen nicht möglich ist – noch existiert eine verbindliche (allenfalls eine freiwillige) Qualitätskontrolle durch die Gutachteninstitute.

    Daher ist es nicht verwunderlich, dass gerade die in relativ kurzer Zeit erstellten KT-Gutachten nicht selten Mängel aufweisen (vgl. Tabelle). Trotzdem werden diese Gutachten in der Regel nicht durch die Gesellschaftsärzte bei den privaten Krankenversicherungsunternehmen überprüft [3].

    Aber auch fachlich hoch qualifizierte Gutachter machen gravierende Fehler, etwa indem sie den Gutachtenauftrag ohne Rückfrage beim Auftraggeber (Gericht oder Versicherungsunternehmen) selbständig erweitern und/oder sich bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit (zu einem definierten Zeitpunkt in der Vergangenheit) auf aktuell von Ihnen selbst erhobene Befunde beziehen, obwohl hier eine Bewertung „ex ante“ erforderlich wäre.

    Schließlich sollten sich ärztliche Gutachter bewusst sein, dass bei einer Beurteilung der Arbeits- bzw. Berufsunfähigkeit immer drei Aspekte zu berücksichtigen sind:

    1. juristisch-vertragsrechtliche,
    2. medizinische,
    3. berufskundliche.

    Gerade die Bedeutung des konkreten Berufsbildes – welches etwa nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 12.6.1996 (AZ: IV ZR 116/95) dem Gutachter als „außermedizinischer Sachverhalt“ vorzugeben ist – wird in der einschlägigen Rechtsprechung zur Krankentagegeldversicherung und zur Berufsunfähigkeitsversicherung immer wieder betont. Dieser Aspekt wird in der medizinisch-gutachterlichen Tätigkeit aber sehr oft vernachlässigt oder gar ignoriert.

    Dr. med. Gerd-Marko Ostendorf

    R+V Krankenversicherung AG

    Raiffeisenplatz 1

    65189 Wiesbaden

    Literatur

     1 Barmeyer J (Hrsg.): Das kardiologische Gutachten. Stuttgart-NewYork: Thieme, 2009

     2 Dörmann MR: Krankentagegeld – Begutachtung durch einen großen Dienstleister. Vers Med (2011), 63: 38

     3 Hakimi R: Versicherungsmedizinische Beratung in der PKV – was fragen private Krankenversicherer ihren Gesellschaftsarzt? Vers Med (2013), 65: 9

     4 Ostendorf GM: Vorsicht – Gutachten! Vers Med (2010), 62: 29

     5 Ostendorf GM: Was ist Versicherungsmedizin? Vers Med (2013), 65: 65

    Typische Mängel in der Krankentagegeld-Begutachtung

     Mangelhafte Erhebung der (Berufs-)Anamnese

     Keine gezielte Untersuchung hinsichtlich des Beschwerdebildes

     Keine Auseinandersetzung mit Vorbefunden

     Mangelhafte Dokumentation von Anamnese und Befunden

     Beschwerden werden als „glaubhaft“ angesehen

     Die Diagnosen stimmen nicht mit den erhobenen Befunden überein (sondern beruhen oft nur auf der Anamnese)

     Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit beruht nicht auf den erhobenen Befunden (sondern oft nur auf der Anamnese)

     Pauschale, nicht weiter begründete Aussagen zur Leistungsfähigkeit

     Überschreiten des eigenen Fachgebiets