Eine Säule der zivilrechtlichen Arzthaftung ist der Bereich der Behandlungsfehler (im engeren Sinn sowie ferner der Aufsichts- und Organisationsfehler, der Dokumentationsfehler usw.), berichtet der P. Sommerfeld, Vorsitzender des 3. Zivilsenats (Arthaftungssenat) des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm, in der Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“. So besagt § 630 a Abs. 2 BGB, dass die Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen hat, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist. Die Ermittlung des jeweiligen Standards für den konkreten Fall ist grundsätzlich Sache des (sachverständig beratenen) Tatrichters.
Bei der Festlegung und Ausfüllung der Standardfrage sind medizinische Leitlinien der Fachgesellschaften (wie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften [AWMF]) und anderer Stellen und die in einem förmlichen Verfahren einer legitimierten Institution für den betroffenen Rechtsraum ergangenen (verbindlichen) Richtlinien (etwa des Gemeinsamen Bundesausschusses) immer wieder von erheblicher Bedeutung.
Auch wenn der Bundesgerichtshof im Urteil vom 15.4.2014 erneut ausgeführt hat, dass Handlungsanweisungen in Richtlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden, ist die praktische Relevanz derartiger Leitlinien sehr hoch, sodass etwa die Nichterörterung einer evtl. erheblichen Leitlinie mit dem Gutachter zur Aufhebung der Entscheidung führen kann, führt Sommerfeld aus.
Speziell die evidenzbasierten Konsensus-Leitlinien (S3- Leitlinien), deren Anzahl in den letzten Jahren stark angestiegen ist (während die S1- und S2-Leitlinien insgesamt zahlenmäßig rückläufig sind) und die teilweise sehr umfangreiche und detaillierte fachliche Ausführungen aufweisen, haben für die Konkretisierung des Standard eine ganz erhebliche Bedeutung – speziell dann, wenn sie in zeitlicher Nähe zum maßgeblichen Behandlungsgeschehen erstellt worden sind und keine fallspezifischen Besonderheiten vorliegen. Der Vorteil liegt darin, dass die Bestimmung des fachlichen Standards auf einem breiten Fundament erfolgt und weniger abhängig von etwaigen persönlichen Einstellungen und Ansichten eines einzelnen Sachverständigen ist.
Aufgrund der normativen Verbindlichkeit von Richtlinien ist davon auszugehen, dass sie den maßgeblichen Fachstandard jedenfalls insoweit festlegen, als eine Unterschreitung regelmäßig nicht zulässig ist, während allerdings im Einzelfall der maßgebliche Standard eine Überschreitung erfordern kann. Man kann bei solchen Richtlinien von einer Indizwirkung für den ärztlichen Standard sprechen und verlangen, dass für eine Abweichung von solch einer Richtlinie eine besondere medizinische Rechtfertigung erforderlich ist, erklärt der OLG-Vorsitzende. Letztlich komme es aber auch bei vorhandenen Richtlinien auf die fachlichen Äußerungen des (vom Gericht beauftragten) Sachverständigen an, was erneut die erhebliche Bedeutung der Gutachter im Arzthaftungsverfahren verdeutliche.
(Versicherungsrecht 66 (2015), 16: 661–677)
Gerd-Marko Ostendorf, Wiesbaden