Wenn sich nach dem aus einem Sprachaudiogramm (in Einzelfällen, wenn ein Sprachaudiogramm nicht durchführbar sein sollte, auch aus einem Tonaudiogramm) ermittelten Befund aus den Bewertungstabellen nach Boennighaus und Röser ein prozentualer Hörverlust von 100 errechnet, ist nach der Definition von einer Taubheit auszugehen. Im Schwerbehindertenrecht wären dann beispielsweise ein GdB von 80 und das Merkzeichen „Gl“ (gehörlos) festzustellen, womit die Freifahrt im Nahverkehr verbunden wäre.
Immer wieder aber ist zu beobachten, dass ein solcher prozentualer Hörverlust bereits zu errechnen ist, obwohl nach den ton- und sprachaudiometrischen Befunden und auch nach den Befunden der Hörweitenprüfung noch ein gewisses Resthörvermögen festgestellt werden kann, also beispielsweise Umgangssprache ante concham (a.c.) bis zu 0,25 m Abstand vom Ohr verstanden wird. In diesen Fällen, so die Ausführungen von Brusis in Heft 5/2014 der Zeitschrift „Laryngo-Rhino-Otologie“ , kann unter Berücksichtigung der Tabelle zur Hörweitenprüfung nach Boenninghaus/Röser aus dem Jahre 1973 nur eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit gutachtlich angenommen werden, die im oben genannten Rechtsbereich dann nur einen GdB von 70 ohne das Merkzeichen „Gl“ bedingt.
Die Tabellen zur Ermittlung des prozentualen Hörverlustes bewerteten im unteren Bereich die Schwerhörigkeitsgrade eher zu schlecht, wobei zum Teilausgleich hier das gewichtete Gesamtwortverstehen nach Feldmann eingeführt wurde. Im oberen Bereich wären die Schwerhörigkeitsgrade allerdings dafür eher zu stark berücksichtigt, dem sollte mit einer Prüfung des Resthörvermögens mit dem genannten Verfahren begegnet werden. In der letzten (7.) Auflage des Standardwerkes zur HNO-Begutachtung von Feldmann/Brusis findet sich daher auch der Merksatz: „Liegt nach dem Sprachaudiogramm und/oder Tonaudiogramm ein prozentualer Hörverlust von 100 % vor und versteht der Patient noch Umgangssprache vor dem Ohr, handelt es sich nicht um eine Taubheit, sondern um eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit. Dies ist bei gutachterlichen Fragestellungen oder bei der Ausstellung von Attesten, z.B. für das Versorgungsamt, zu berücksichtigen“.
(Brusis T: Aus der Gutachtenpraxis: Entspricht ein Hörverlust von 100 % immer einer Taubheit? Laryngo-Rhino-Otologie 93 (2014), 5: 334)
E. Losch, Frankfurt/M.