Über die Entwicklung der Rechtsprechung in der Schweiz zur Invalidität berichtet Bruno Soltermann, Chefarzt Schweizerischer Versicherungsverband, in der Fachzeitschrift „Versicherungsmedizin“.
Im Jahr 2004 hatte das Schweizerische Bundesgericht ein damals wegweisendes Urteil gefällt, durch welches die sogenannte „Überwindbarkeitspraxis“ in der Schweiz eingeführt wurde. Grundgedanke dieses Urteils war die „Überwindbarkeitsvermutung“, d. h. die Überwindbarkeit der somatoformen Schmerzstörung galt als Regel, Arbeitsunfähigkeit bzw. Invalidität(srente) galten dagegen als Ausnahme. In den folgenden Jahren wurden dann weitere „pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlagen“ dieser „Überwindbarkeitsvermutung“ unterstellt.
Nachdem diese Praxis sowohl in ärztlichen als auch in juristischen Fachkreisen sehr kritisch diskutiert wurde, v. a. nach einem Gutachten dazu von P. Henningsen aus dem Jahr 2014, wurde die „Überwindbarkeitsvermutung“ am 3.6.2015 vom Schweizerischen Bundesgericht aufgegeben. An deren Stelle trat nunmehr ein strukturiertes Beweisverfahren anhand vorgegebener Indikatoren zum Schweregrad der Erkrankung und zur Konsistenz der Behinderung in allen Lebensbereichen. Defizite und Ressourcen müssen nunmehr im Gutachten dargelegt sowie gründlich und überzeugend diskutiert werden; das gilt als unerlässliches Qualitätskriterium der gutachtlichen Beurteilung.
Das Schweizerische Bundesgericht hat dabei die Überlegungen der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der WHO zur Begutachtung übernommen. Damit hat die Ausrichtung der gutachtlichen Einschätzung an der Denkweise der ICF Eingang in die schweizerische bundesgerichtliche Rechtsprechung gefunden.
(Soltermann B: ICF und Begutachtung: Hintergrund zu den schweizerischen Eigenheiten in der Rechtsprechung … VersMed 70 (2018) 3: 107–108)
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden