Gutachter, die zu Behandlungen von Heilpraktikern oder alternativmedizinisch orientierten Ärzten Stellung nehmen sollen, werden zunehmend mit der Diagnose „Leaky-Gut-Syndrom“ konfrontiert. Worum handelt es sich dabei?
„Leaky Gut” ist ein Begriff aus dem Englischen und bedeutet übersetzt „durchlässiger Darm“. Allergene, Toxine, Stoffwechselprodukte, Bakterienbestandteile usw. gelangen angeblich über die geschädigte Darmschleimhaut in den Organismus und sollen im Rahmen pathogener immunologischer Reaktionen Beschwerden verschiedenster Art hervorrufen. Wissenschaftliche Studien zu einem definierten „Leaky-Gut-Syndrom“ gibt es jedoch nicht.
Aufschlussreich ist nun ein aktueller Beitrag von Andreas Rüffer, der den Bereich „Enterosan®/Klinische Mikrobiologie“ der Labors LS in Bad Bocklet leitet (wo entsprechende Laboruntersuchungen durchgeführt werden) in der „Zeitschrift für Komplementärmedizin“ – zmk.
Zur Definition führt Rüffer aus:
„Die Barrierestörungen der Darmwand werden als Leaky-Gut-Syndrom bezeichnet. Dabei handelt es sich häufig um eine funktionelle Störung der sogenannten Tigh Junctions, der Kittsubstanz zwischen den Epithelzellen. Dadurch können Substanzen unkontrolliert die Darmbarriere passieren […]
Diese Stoffe sorgen für eine verstärkte Aktivierung des Immunsystems, aus dem letztlich allergische oder andere immunologische Überreaktionen resultieren können. Damit gehen die Auswirkungen solcher primär lokalen Störungen weit über den Darm hinaus – und können den Weg für chronische Entzündungen bereiten. […]
Mit der klassischen gastroenterologischen Diagnostik sind solche Barriere-Einschränkungen nicht nachzuweisen.“
Hier ist zunächst zu klären, ob der Begriff „Syndrom“ überhaupt zutrifft. Nach Wikipedia bezeichnet der Begriff „Syndrom“ in der Medizin eine Kombination von verschiedenen Krankheitszeichen (Symptomen), die typischerweise gleichzeitig und gemeinsam auftreten. Solche Krankheitszeichen werden jedoch überhaupt nicht genannt, sondern der Begriff „Syndrom“ wird hier als Bezeichnung einer angeblichen funktionellen Störung des Darmepithels verwendet, ohne dass damit (primär) irgendwelche Krankheitszeichen verbunden sind. Rüffer spricht hier von latenten Entzündungen, sogenannten „silent inflammations“.
Daher ist bereits der Begriff „Leaky-Gut-Syndrom“ sachlich falsch.
Aufschlussreich ist weiter die Aussage, dass solche Barriere-Einschränkungen mit der klassischen gastroenterologischen Diagnostik nicht nachzuweisen seien – somit handelt es sich eben nicht um eine nachweisbare Erkrankung. Entsprechend führt Rüffer korrekt aus, dass beim Verdacht auf eine über eine solche (angebliche) Barrierestörung hinausgehende Veränderung der Darmschleimhaut die endoskopische Darmuntersuchung der „Goldstandard“ sei.
Zur Klärung eines „Leaky-Gut-Syndroms“ empfiehlt Rüffer die Untersuchung von Laborparametern. Dabei seien Alpha-1-Antitypsin und Zonulin im Stuhl „die Mittel der Wahl“. Diese Empfehlung ist jedoch ausgesprochen fragwürdig:
Zwar finden sich deutlich erhöhte Alpha-1-Antitrypsin-Werte bei Patienten mit Morbus Crohn, Colitis ulcerosa und anderen organischen Darmerkrankungen. Als unspezifischer Suchtest ohne eine entsprechende, klinisch begründete Diagnose ist Alpha-1-Antitrypsin dagegen nicht validiert.
Die Empfehlung, neben Alpha-1-Antitypsin auch Zonulin zu bestimmen, erstaunt besonders, da Rüffer selbst einschränkt, dass die Datenlage zur Messung von Zonulin im Stuhl begrenzt ist und „die derzeit benutzten Richtwerte vorerst nur zur groben Orientierung dienen“ können.
Zudem bleibt die Indikation einer solchen Diagnostik ausgesprochen fragwürdig. Rüffer behauptet pauschal, es sei „wichtig, derartige Probleme frühzeitig zu erkennen, um weiter Schäden mit zielgerichteten Therapiemaßnahmen abwehren zu können“. Dabei handelt es sich aber um nicht weiter ausgeführte Spekulationen – welche angeblich zielgerichteten Therapiemaßnahmen sollen denn durchgeführt werden, um welche konkreten Schäden zu vermeiden?
Schließlich ist selbst bei definierten Darmerkrankungen mit deutlich erhöhter Permeabilität der Darmwand (als einem „Leaky Gut“) in aller Regel unklar, ob es sich dabei um eine Ursache oder um eine Folge der Erkrankung handelt.
Insgesamt ist festzustellen, dass es ein „Leaky-Gut-Syndrom“ als definiertes Krankheitsbild überhaupt nicht gibt.
Somit ist weder für eine entsprechende Labordiagnostik (etwa mit Alpha-1-Antitypsin und Zonulin im Stuhl) eine medizinische Notwendigkeit zu erkennen noch für eine darauf beruhende Therapie, falls nicht ein eindeutiges organisches gastroenterologisches Krankheitsbild vorliegt.
(Rüffer A: Ein Leck im Darm entdecken. zmk 10 (2018), 3: 46–48)
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden