Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) der letzten zehn Jahre zur Einschätzung der Invalidität bei Schulterverletzungen in der privaten Unfallversicherung hat erhebliche Diskussionen ausgelöst, berichtete der ehemalige Präsident des Saarländischen Oberlandesgerichts Roland Rixecker vom Institut für Deutsches und Europäisches Privatversicherungsrecht an der Universität des Saarlandes auf dem 11. Kongress für Versicherungsmedizin und Begutachtung am 6. Dezember 2018 in Frankfurt/Main.
Auslöser der Irritationen war v. a. ein BGH-Urteil vom 1.4.2015 (AZ: IV ZR 104/13) mit folgendem Leitsatz: Findet das Schultergelenk in den Bestimmungen der Gliedertaxe über Verlust oder völlige Funktionsbeeinträchtigung eines Arms keine Erwähnung, ist der Invaliditätsgrad bei der Gebrauchsminderung der Schulter nicht nach der Gliedertaxe, sondern den Regeln zur Invaliditätsbestimmung für andere Körperteile zu ermitteln.
Eine solche Invaliditätsbemessung außerhalb der Gliedertaxe führte zu „juristisch-medizinischen Missverständnissen“, obwohl diese Separation von den Gliedertaxen-Werten zunächst einmal juristisch nichts bedeutet, erklärte Rixecker: Es komme weiterhin darauf an, welche funktionellen Beeinträchtigungen in welchem Maße aus medizinischer Sicht dauerhaft vorhanden seien. Gefordert sei eine autonome Bewertung des Schulterschadens.
In der Folge führte das Oberlandesgericht Karlsruhe in einem (rechtskräftigen) Urteil aus, dass kein Wertungswiderspruch zu den Taxwerten der Gliedertaxe entstehen dürfe. Ein solches Vorgehen steht der BGH-Rechtsprechung nicht entgegen. So erklärte der BGH am 27.9.2017 (AZ: IV ZR 511/15), der Tatrichter sei nicht gehindert, im Rahmen der Invaliditätsbemessung für nicht in der Gliedertaxe angeführte Körperteile die Wertungen der Gliedertaxe in deren entsprechenden Anwendung heranzuziehen, um Wertungswidersprüche zu den pauschalierten Invaliditätsgraden der Gliedertaxe zu vermeiden. Damit relativierte der BGH seine Ausführungen im Urteil vom 1.4.2015.
Für den Sachverständigen bedeutet das, dass er bei Schulterverletzungen den „Armwert“ zwar nicht „veranschlagen“ darf, ihn aber durchaus in seine Wertung einbeziehen kann, erklärte Rixecker. Er sollte daher eine vergleichende Betrachtung durchführen unter Berücksichtigung folgender Fragen:
Welche Konsequenz hat die Schädigung der Schulter auf die Funktionalität des Arms?
Wie wäre der Invaliditätsgrad einzuschätzen, wenn der Sitz der Schädigung der Arm wäre?
Dabei sei, im Gegensatz zu manchen Empfehlungen aus unfallchirurgischen Kreisen, nicht der amputierte Arm, sondern auf die Funktion des ganzen Arms abzustellen. Die Annahme, dass die Schulterrechtsprechung des BGH vom 1.4.2015 so zu interpretieren sei, dass die Schulterfunktion ohne Arm zu bewerten sei, sei juristisch nicht nachvollziehbar.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden