Sowohl die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als auch des Bundessozialgerichts fordern für die Zukunft eine stärkere Berücksichtigung der individuellen Einflüsse einer Hilfsmittelversorgung und auch einer Medikation bei der gutachtlichen Bewertung und Feststellung einer MdE, eines GdS und auch eines GdB. Die Kommission Unfallversicherung der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie hat als Folge dieser Entscheidungen auf dem Sozialgerichtstag 2012 in Potsdam beschlossen, die bisherigen MdE-Erfahrungswerte zu Folgen von Unfällen bzw. auch Berufskrankheiten in Hinsicht auf die Anforderungen der aktuellen Arbeitswelt und einer heute technisch bzw. medikamentös möglichen Versorgung zu überprüfen. Schürmann stellt in der Ausgabe 3/2014 der Zeitschrift „Trauma und Berufskrankheit“ den Stand der bislang hierzu geführten Diskussion mit den daraus resultierenden Vorschlägen dar.
Umstände, die erschwerend oder erleichternd auf die Erwerbsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben einwirken, seien sämtlich zu berücksichtigen. In den „Reichenhaller Empfehlungen“ zu den obstruktiven Atemwegserkrankungen BK 4301, 4302 und 1315 findet sich auch schon der Hinweis, dass die Besserung des Zustandes durch Medikation bei der Bemessung der MdE zu berücksichtigen sei. Die „Königsteiner Empfehlungen“ zur Begutachtung der BK 2301 „Lärmschwerhörigkeit“ enthielten zwar noch den Hinweis, dass eine Benutzung von Hörgeräten keine Berücksichtigung in der MdE nach sich ziehe, was aber angesichts der Leistungen digitaler Hörgeräte nicht mehr gerechtfertigt sei, vielmehr müsste eine solche bestmögliche Versorgung eine „erhebliche“ Herabsetzung der MdE nach sich ziehen.
Dies gelte bei einer „bestmöglichen Versorgung“ auch für eine sonstige Endo-/Exoprothesenversorgung, hieran sei rechtlich kein Zweifel angebracht. Die Frage sei, woran sich der Anteil dieser Herabsetzung der MdE zu orientieren habe, wobei die gängigen Standardwerke der Literatur Hinweise hierzu vermissen ließen. Zu berücksichtigen bei der Bemessung seien einmal veränderte äußere Bedingungen des Erwerbslebens, so beispielsweise der Umstand, dass zwischen 1938 und 1998 der Arbeitsanteil der Produktion von 42 auf 28 % gefallen sein, während der Anteil der Dienstleitung von 38 auf 75 % gestiegen sei. Wenn weiter nach Untersuchungen an Oberschenkelamputierten mit heute möglicher prothetischer Versorgung Mobilitätsgrade 3 und 4 (Grad 3: Wiederherstellung der Stehfähigkeit, Gehfähigkeit im Innenbereich nicht und im Außenbereich unwesentlich limitiert bzw. in beiden Bereichen nicht limitiert, Grad 4) erreicht würden, sei die bisherige MdE von 70 % nicht mehr gerechtfertig, sondern der Verlust mit einem Wert von 40 % (bei einseitigem Verlust, beidseitig 70 %) zutreffend eingeschätzt. Bei Unterschenkelverlust könnte die MdE von 50 % auf 30 % (bzw. 50 % beidseitig) gesenkt werden.
Die Möglichkeiten der Versorgung von Amputationen im Armbereich mit myoelektrischen Prothesen machten es angesichts der heute im Erwerbsleben vorherrschenden Tätigkeiten am Schreibtisch möglich, die MdE für eine Oberarmamputation mit 50 % statt 75 % (beidseits 80 %) und für eine Unterarmamputation nur noch mit 45 % für eine einseitige bzw. 80 % für eine beidseitige Amputation anzusetzen (bislang 65 % bzw. 100 %). Für eine Handamputation kämen Werte von 45 % statt 60 % (beidseitig 80 % statt 100 %) in Betracht. Eine jeweils ausführliche Begründung des medizinischen Sachverständigen zu den MdE-Werten jedoch sei unumgänglich.
Eine Änderung der MdE ist bekanntlich nur im Fall einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse möglich, die Fälle der geänderten MdE würden sich also auf Unfälle mit Erst- oder Folgeamputation beschränken. Aber auch bei Fällen mit Neu- oder Erstversorgungen mit entsprechend hochwertigen Prothesen oder Einsatz von Medikamenten mit besserer Wirkung werde man eine solche wesentliche Änderung annehmen können.
(Schürmann J: MdE nach Hilfsmittelversorgung oder Medikation. Trauma und Berufskrankheit (2014), 3: 204)
E. Losch, Frankfurt/Main