Innerhalb des jährlich in Berlin stattfindenden Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) stoßen Fragen zur Begutachtung in verschiedenen Rechtsgebieten auf ein immer größer werdendes Interesse.
Bei einem ansteigenden Anteil von Berufsunfähigkeitsanträgen in der Privatversicherung kommt insbesondere der psychiatrischen Begutachtung eine größere Bedeutung zu, so dass nun bereits zum dritten Mal in Folge eine Arbeitsgruppe des Ausschusses für Versicherungsmedizin/Risiko- und Leistungsprüfung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft, die sich aus Versicherungsmedizinern und Psychologen zusammensetzt, ein Symposium auf diesem größten europäischen Fachkongress abhielt. Unter der externen Moderation von Jürgen Fritze, Pulheim, und Harald Gündel, Ulm, referierten am 24.11.2016 Martin Pollak, Gesellschaftsarzt der Gothaer, Maike Fliegner, Gesellschaftspsychologin bei Generali und Berthold Schröder, Leitender Gesellschaftsarzt Leben der Allianz.
Pollak gab ausgehend von der Leistungsdefinition der privaten Berufsunfähigkeit einen Überblick über die Gründe und Anlässe für Begutachtungen. Er stellte klar, dass medizinische Gutachten in der Leistungsprüfung durch den Versicherer nur in einem geringen Prozentsatz der Fälle erfolgen. Das bedeutet, dass die überwiegende Zahl der Leistungsanträge bereits auf Basis der vorliegenden Unterlagen (Arztberichte, Krankenhaus- oder Reha-Berichte) entschieden wird. Hierbei handelt es sich wiederum zu einem hohen Anteil um Anerkennungen.
Gutachten sind dann erforderlich, wenn ernsthafte Zweifel an der Berufsunfähigkeit vorliegen, Widersprüche in medizinischen Berichten auffallen, widersprüchliche Aussagen verschiedener Ärzte vorliegen und die Beurteilung längerer Krankheitsverläufe in der Vergangenheit sowie Fragen zur Prognose zu klären sind. Eine weitere Fallgruppe von Gutachten ergibt sich aus den juristischen Rahmenbedingungen. Der Versicherer kann seine Leistungen einer laufenden Rentenzahlung im weiteren Verlauf nur einstellen, wenn er eine gesundheitliche Besserung nachweist. In Fällen mit geringen medizinischen Ausgangsbefunden erfolgt daher eine Begutachtung, um eine Basis für eine spätere Vergleichsbetrachtung zu erlangen. Erfolgt dann die Nachprüfung, kann ein weiteres Gutachten erforderlich werden. Das medizinische Gutachten bildet abgesehen von der rein fachlichen Darstellung eines Falles somit einen wichtigen formalen Schritt in der Leistungsprüfung. Ferner entfaltet es Folgen für die formalen Prozesse des Leistungsfalles wie Leistungsdauer oder die Gestaltung von Nachprüfungen.
Anhand von originalen Gutachtenausschnitten verdeutlichten Schröder und Fliegner, worauf es bei einem qualifizierten Gutachten zur Berufsunfähigkeit ankommt. Beide betonten, dass die Einhaltung von Qualitätsstandards in der Begutachtung in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist, da zunehmend mehr Antragsteller mit schwer objektivierbaren Einschränkungen ihrer konkreten Berufsausübung zu beurteilen sind. Gleichzeitig sind auch die Erwartungen von Versicherten, Rechtsanwälten und nicht zuletzt Gerichten an Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Leistungsentscheidungen gestiegen. Anhand des modifizierten Belastungs-Beanspruchungsmodells stellte Schröder dar, wie sich psychische Beeinträchtigungen auf konkrete Tätigkeiten auswirken und welche Qualitätsanforderungen an Gutachten gestellt werden.
Schröder und Fliegner gelang es gemeinsam, anhand konkreter Kasuistiken die notwendige Interdisziplinarität zwischen Versicherungsmedizin und Psychologie in der Begutachtung als Schlüssel für validere Gutachtenergebnisse herauszuarbeiten. Die neutrale Exploration und Beobachtung des Untersuchten hinsichtlich seiner Beschwerden, seiner Alltagsaktivitäten sowie die verfügbaren und messbaren Untersuchungsergebnisse wie psychopathologischer Befund, Medikamentenspiegelbestimmungen und neuropsychologische Testverfahren sind durch den Gutachter mit den konkreten beruflichen Anforderungen abzugleichen und die prozentuale Einschränkung der konkreten beruflichen Teiltätigkeiten in einer nachvollziehbaren Argumentationskette zu ermitteln. Fliegner ging detailliert auf den Beitrag der psychologischen Zusatzbegutachtung und den Stellenwert psychometrischer Testverfahren zur Beschwerdenvalidierung ein.
Grundsätzlich gilt auch für die Einschätzung der Berufsunfähigkeit, dass weniger die Diagnosebezeichnungen, sondern die teilhabeorientierte Betrachtung wie z.B. die Bewertung der Alltagstauglichkeit gemäß ICF ausschlaggebend ist, da eine Berufsunfähigkeit nicht auf Diagnosen beruht, sondern auf konkreten Funktionseinschränkungen in der Ausübung der tatsächlichen beruflichen Teiltätigkeiten.
Im Anschluss an die Referate bestand Raum zur Diskussion. So wurde z.B. die Bedeutung psychometrischer Testergebnissen hinterfragt, wenn die Testergebnisse zwar im Normbereich, der Beruf aber deutlich erhöhte Anforderungen an Konzentration, Kreativität und Leistungsvermögen stellt. Fliegner erläuterte, dass bei einer beruflichen Tätigkeit, die überdurchschnittliche kognitive Leistungen erfordert, auch bei durchschnittlichen, d.h. per se nicht pathologischen Testbefunden, eine Berufsunfähigkeit vorliegen kann. Zugrunde gelegt werden dabei das berufliche Anforderungsprofil und das prämorbide Leistungsniveau. Der Neuropsychologe schätzt das prämorbide Leistungsniveau ab, indem er u.a. eine sorgfältige biografische Anamnese (höchster Bildungsabschluss) und Testanamnese (zurückliegende Testergebnisse) erhebt.
Eine weitere Frage war, ob denn bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vorliegt, wenn die Wegefähigkeit an den Arbeitsplatz zu gelangen, bei Agoraphobie nicht gegeben ist. Dies ist durchaus geeignet, eine Berufsunfähigkeit auszulösen, wobei im Einzelfall geprüft werden muss, ob tatsächlich alle verkehrstechnischen Möglichkeiten, den Arbeitsplatz zu erreichen, ausgeschöpft wurden bzw. ausgeschlossen worden sind. Dies hängt auch davon ab, wie stark die Agoraphobie ausgeprägt ist und ob durch Medikation und/oder therapeutische Maßnahmen die Berufsunfähigkeit auf unter 50 % oder ganz reduziert werden kann (siehe auch Urteil des Landessozialgerichts Niedersachen L 2 R 236/12).
Mit dem Symposium wurde der wichtige Dialog zwischen Versicherungswirtschaft und Gutachtern fortgesetzt. Ziel ist es, durch besser informierte Gutachter die Gutachtenqualität weiter zu erhöhen, um der öffentlichen Kritik am Gutachterwesen entgegenzuwirken und gleichzeitig schnelle und belastbare Entscheidungen bei Leistungsanträgen treffen zu können.
B. Schröder, Unterföhring