Die Begutachtung von Patienten mit chronischen Schmerzen ist schwierig und stellt für den Gutachter – im Sozial- ebenso wie im Privatrecht – eine Herausforderung dar. Diesem Thema widmete sich eine interdisziplinäre Fortbildungsveranstaltung des IVM – Privates Institut für Versicherungsmedizin in Frankfurt unter Vorsitz von Klaus-Dieter Thomann am 18. April 2018 in Frankfurt/Main.
Psychosomatik des chronischen Schmerzes
Gertrud Greif-Hilgers von der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Mainz beleuchtete die Psychosomatik des chronischen Schmerzes. Dabei handelt es sich um eine komplexe sensorische, emotionale und kognitive Erfahrung mit hoher Assoziation mit multiplen funktionellen Symptomen sowie mit affektiven Symptomen und Leidensintensität, dysfunktionalem Krankheitsverhalten, Funktionsverlust, Fatigue, Behinderung und hohen Versorgungswünschen. Zudem spricht chronischer Schmerz nur schlecht auf übliche Methoden der Analgesie an.
Schmerzverstärkung (Amplifikation) hat bei chronischem Schmerz einen eigenen Stellenwert. Darunter versteht man die Tendenz zur verstärkten Wahrnehmung von Körpersensationen und deren Bewertung als intensiv und schädlich. Weiter charakteristisch ist die Tendenz, auf jede Art von Schmerzsensation alarmiert und gestresst zu reagieren und diese zu katastrophisieren.
Schmerz als Gesundheitsschaden
Klaus-Dieter Thomann, Leiter des IVM, beleuchtete die Entwicklung der gesellschaftlichen Einstellung zum Schmerz und deren Veränderung in den letzten 30 Jahren: Unter der Prämisse, keiner müsse mehr unter Schmerz leiden, gab und gibt es massive Forderungen, die Schmerztherapie auszubauen. Durch eine Liberalisierung der Verordnungspraxis für Analgetika, speziell Morphine, und durch massive Werbung dafür ist es inzwischen zu zahlreichen Fällen von Opioidabusus gekommen. So wurden nach aktuellen Meldungen aus dem US-amerikanischen Center of Disease Control für 2017 in den USA insgesamt 60.000 Tote infolge medizinischer Opioide erwartet!
Die Begutachtung von Schmerzen ist, so Thomann, nur zum Teil medizinisch determiniert und wird wesentlich von Kontextfaktoren bestimmt. Gerade deswegen sei jedoch die Transparenz des Gutachtens von entscheidender Bedeutung, wobei der Gutachter v. a. folgende Punkte berücksichtigen müsse:
Umfassende Aktenauswertung
Ausführliche Dokumentation des Krankheitsverlaufs und der Beschwerden aus Sicht des Betroffenen
Sorgfältige faktenbasierte Untersuchung
Organbezogene Diagnosen nach der ICD-10
Bei nicht organisch erklärbaren Schmerzen eine (zusätzliche) psychiatrische Begutachtung
Logisch nachvollziehbare und widerspruchsfreie Beurteilung, welche auch ein nicht-medizinischer Leser (Richter, Versicherungssachbearbeiter) verstehen und überprüfen kann
Medizinische Begutachtung von Patienten mit Schmerzsyndromen
Schmerz ist subjektiv geprägt, nicht objektivierbar und nur bedingt messbar. Apparative Untersuchungen (z. B. PET, SPECT, CT, MRT, neurophysiologische Diagnostik) sind weder zur individuellen Schmerzdiagnostik geeignet noch gar für die algesiologische Begutachtung, erklärte Martin Tegenthoff, Direktor der Neurologischen Klinik und Poliklinik, BG-Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum.
Problematisch ist nicht selten der Einsatz von Fragebögen und Skalen in der Schmerzbegutachtung, auch wenn diese von Sozialgerichten oft ausdrücklich angefordert werden. Selbsteinschätzungsskalen allein haben keine Bedeutung als objektives Kriterium, und subjektiv beschriebene Beeinträchtigungen sollten keinesfalls unkritisch in das Gutachten übernommen werden.
Die Diagnose „Schmerzkrankheit“ allein ist als Grundlage für eine gutachtliche Beurteilung, etwa zur Festlegung der MdE, nicht akzeptabel. Erforderlich ist immer eine präzise organmedizinische und/oder psychiatrische Diagnose, betonte Tegenthoff.
Entscheidend für die Begutachtung chronischer Schmerzen ist schließlich die Konsistenzprüfung, v. a. anhand der Verhaltensbeobachtung während der Begutachtung. Grundsätzlich ist hier die Frage zu klären, inwieweit die subjektiven Angaben des Betroffenen mit den erhobenen objektiven Befunden und den vorliegenden Informationen (v. a. aus der Krankenakte) korrelieren. Erforderlich sind daher eine zeitaufwändige Untersuchung und Exploration, auch unter Einschluss von Fragebögen.
Die pauschale Behauptung von „Glaubhaftigkeit“ der angegebenen Beschwerden reicht nicht aus, so Tegenthoff. Erkannte Verdeutlichungstendenzen, v. a. Aggravation oder gar Simulation, müssen im Gutachten benannt werden.
Schmerzen in der Rechtsprechung der Sozialgerichte
Für alle sozialgerichtlichen Rechtsfragen (im Schwerbehindertenrecht, im Versorgungsrecht, in der Rentenversicherung und in der gesetzlichen Unfallversicherung) ist zunächst die Feststellung der Schmerzen bzw. einer Schmerzerkrankung erforderlich. Als Beweismaßstab gilt der Vollbeweis, d. h. die Schmerzen müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen, führte Anne Kutschera, Richterin am Landessozialgericht Hessen, aus.
Bei außergewöhnlichen Schmerzen und Schmerzstörungen sowie bei somatoformen Schmerzstörungen bedarf es zusätzlich weiterer Kriterien, welche Rückschlüsse auf das tatsächliche Vorliegen von Schmerzen zulassen. Auch sie betonte die Wichtigkeit der Konsistenz in der Verhaltensbeobachtung und der Beschwerdeschilderung.
Rechtliche Bewertung von Schmerzensgeldansprüchen und Behandlungsfehlern
Der Schmerzensgeldanspruch ergibt sich aus § 253 Abs. 2 BGB, berichtete Lothar Jäger, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Köln. Aus dem Gesetz folgt auch, dass kein Schmerzensgeld für den Tod eines Menschen geschuldet wird. Hier greift allerdings inzwischen für die Angehörigen die neue gesetzliche Regelung zum Hinterbliebenengeld. Dies ist ein eigener Anspruch der Angehörigen, nicht aber ein Anspruch des Patienten, den die Angehörigen geerbt hätten.
Ein Behandlungsfehler kann vorliegen, wenn der Arzt den medizinischen Standard (§ 630 BGB) nicht einhält. Hier nannte Jäger einige Fallkonstellationen, bei denen die Arzthaftpflicht-Rechtsprechung inzwischen zu einem sorgfältigeren Vorgehen bei Operationen geführt hat, beispielsweise
- Halslymphknoten-Exstirpation ohne Darstellung und Schonung des Nervus accessorius
- Schilddrüsen-Operation ohne Darstellung und Schonung des Nervus recurrens
- Überschreitung der Sechs-Stunden-Frist bei Hodentorsion
Die Referenten verwiesen schließlich mehrfach auf die Leitlinie für die Ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen („Leitlinie Schmerzbegutachtung“; AWMF-Registernummer 094-003), die im Herbst 2017 in 4. aktualisierter Fassung vorgelegt worden war. Die neue Version war ja erst kürzlich von Bernhard Widder in dieser Zeitschrift (Heft 2/2018, S. 62–68) ausführlich vorgestellt worden.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden