Der Bundesgerichtshof (BGH) stellt mit Urteil vom 20.12.2017 (AZ: IV ZR 11/16) hohe Anforderungen an die Verweisung eines Versicherten in der (privaten) Berufsunfähigkeitsversicherung auf einen anderen Beruf, selbst wenn dieser bereits ausgeübt wird und zu einem deutlich höheren Einkommen führt.
Der Kläger, ausgebildet als Landmaschinenmechaniker, hatte von Juli 1994 bis Ende Dezember 2000 im Bereich Metallbau mit einem Schwerpunkt Hufbeschlag gearbeitet. Danach hatte er einen viereinhalb Monate dauernden, ganztägigen Lehrgang zum Hufbeschlagschmied absolviert und war von Juni 2003 bis März 2009 in diesem Beruf selbständig tätig gewesen. Vom 1. April 2009 bis 30. April 2015 war er in einer Biogasanlage zunächst als Anlagenwart, dann als Maschinenführer tätig gewesen.
Er behauptete, sein im Jahr 2004 beginnendes Leiden, unter anderem chronische Lendenwirbel- und Schultergelenkbeschwerden, habe den Wechsel zur Tätigkeit in der Biogasanlage erforderlich gemacht. Er habe die Tätigkeit als Hufbeschlagschmied zunächst noch nebenberuflich weitergeführt, sei aber in diesem Beruf jedenfalls seit Juli 2012 zu mindestens 50 % berufsunfähig.
Die beklagte Versicherung verweigerte die Leistungen mit der Begründung, der Kläger könne auf die Tätigkeit als Maschinenführer verwiesen werden.
Dieser Argumentation waren sowohl das Landgericht (LG) Flensburg mit Entscheidung vom 23.03.2015 (AZ: 4 O 303/14) als auch das Oberlandesgericht (OLG) Schleswig mit Entscheidung vom 17.12.2015 (AZ: 16 U 50/15) gefolgt. So argumentierte das OLG Schleswig, dass dem Kläger die Tätigkeit als Maschinenführer aufgrund seiner Ausbildung als Landmaschinenmechaniker und einer früheren Tätigkeit als Maschinenführer im Garten- und Landschaftsbau unzweifelhaft möglich sei.
Diese Tätigkeit entspreche auch seiner bisherigen Lebensstellung, zu der die Verdienstmöglichkeiten, aber auch das Ansehen des Berufs in der Öffentlichkeit gehörten. Zwar habe der Kläger als selbständiger Hufbeschlagschmied im ländlichen Bereich möglicherweise ein etwas höheres Sozialprestige gehabt als ein angestellter Maschinenführer. Dies werde aber durch das höhere und überhaupt erst jetzt einigermaßen auskömmliche Einkommen des Klägers als Maschinenführer mehr als ausgeglichen. Von seinem früheren Einkommen als Hufbeschlagschmied sei ihm dagegen praktisch nichts zum Leben verblieben.
Das halte jedoch einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand, kritisiert nun der BGH mit folgender Argumentation:
- Eine Verweisung des Versicherten (d. h. des Klägers) auf eine andere Tätigkeit kommt nach den Vertragsbedingungen nur dann in Betracht, wenn die andere Tätigkeit seiner bisherigen Lebensstellung entspricht. Die bisherige Lebensstellung wird vor allem durch die zuletzt ausgeübte Tätigkeit geprägt. Die Lebensstellung des Versicherten wird also von der Qualifikation seiner Erwerbstätigkeit bestimmt, die sich wiederum daran orientiert, welche Kenntnisse und Erfahrungen die ordnungsgemäße und sachgerechte Ausübung der Tätigkeit voraussetzt. Eine Vergleichstätigkeit ist dann gefunden, wenn die neue Erwerbstätigkeit keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und in ihrer Vergütung sowie in ihrer sozialen Wertschätzung nicht spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs absinkt.
- Diesen Maßstäben genügt jedoch die Vergleichsbetrachtung des Berufungsgerichts (d. h. des OLG) nicht: Der Umstand, dass das Einkommen des Klägers als Hufbeschlagschmied nicht zur Deckung des Lebensunterhalts ausreichte und sein Berufswechsel zu einer erheblichen Einkommenssteigerung geführt hat, ändert nichts daran, dass die für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit erforderlichen Kenntnisse und die hierfür notwendige Erfahrung seine berufliche Qualifikation, die durch die neue Tätigkeit nicht deutlich unterschritten werden darf, bestimmen. Der Versicherte darf in dem von ihm ausgeübten Verweisungsberuf – unabhängig von einem unter Umständen auch höheren Einkommen – nicht „unterwertig“, also seine frühere Qualifikation und seinen beruflichen oder sozialen Status unterschreitend, beschäftigt sein.
Das angefochtene Urteil wurde daher vom BGH aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht (OLG) zurückverwiesen. An einer eigenen Sachentscheidung sah sich der BGH bereits deswegen gehindert, weil das Berufungsgericht keine Feststellungen zu den Anforderungsprofilen für die Tätigkeit als Hufbeschlagschmied einerseits und als Maschinenführer andererseits getroffen habe.
Kommentar
Dieses höchstrichterliche Urteil ist in seiner Konsequenz ausgesprochen problematisch:
Zwar ist aus der einschlägigen Rechtsprechung der vergangenen Jahre durchaus bekannt, dass bei der Beurteilung der Frage, ob ein Verweisungsberuf zulässig bzw. zumutbar ist, durchaus nicht nur finanzielle Aspekte eine Rolle spielen, sondern auch die soziale Anerkennung – auch wenn die Berufsunfähigkeitsversicherung in erster Linie der finanziellen Absicherung bei ausgeprägter Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen dient.
So hat etwa das OLG Karlsruhe fünf Jahre zuvor mit Urteil vom 6.12.2012 (AZ: 12 U 93/12) festgestellt, dass ein beruflich selbständig tätiger Versicherter nicht abstrakt auf eine Tätigkeit als Angestellter verwiesen werden kann, auch wenn diese gegenüber der früheren Selbständigkeit bei geringeren Anforderungen an die Qualifikation und geringerer gesellschaftlicher Wertschätzung eine kürzere Arbeitszeit, ein höheres Entgelt und eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung bietet.
Im vorliegenden Fall wird dieses Prinzip allerdings auf die Spitze getrieben, zumal vom Berufungsgericht festgestellt worden war, dass das vorherige Einkommen des Klägers als Hufbeschlagschmied so gering war, dass ihm „praktisch nichts zum Leben verblieben“ war. Ob ein Lehrgang zum Hufbeschlagschmied von viereinhalb Monaten Dauer mit anschließend entsprechender selbständiger beruflicher Tätigkeit tatsächlich zu einem deutlich höheren beruflichen oder sozialen Status führt als eine Arbeit als Maschinenführer, erscheint zumindest recht zweifelhaft.
Zudem stellt dieses Urteil die Gerichte, die über eine Verweisung in der Berufsunfähigkeitsversicherung zu entscheiden haben, vor schwierige Aufgaben:
Nach welchen Kriterien sollen sie beurteilen, ob etwa eine selbständige Tätigkeit als Hufbeschlagschmied tatsächlich ein (deutlich) höheres Sozialprestige hat als ein angestellter Maschinenführer?
Wenn dafür auf das konkrete berufliche soziale Umfeld des Versicherten abgestellt werden soll – wie ist das zu ermitteln?
Für den medizinischen Gutachter ergibt sich als Konsequenz, dass er sich bei der Frage nach der Verweisbarkeit eines Versicherungsnehmers/Klägers auf einen anderen Beruf streng auf die rein (arbeits-)medizinischen Aspekte beschränken sollte, möglichst mit Erstellung eines positiven und eines negativen Leistungsbildes. Aussagen etwa zur beruflichen Qualifikation oder zur gesellschaftlichen Wertschätzung eines Berufs fallen nicht in seine Kompetenz; eine Antwort auf entsprechende Fragen (etwa „Kann der Kläger auf diesen Beruf verwiesen werden?“) sollte er ablehnen.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden