„Individuelle Behandlungskonzepte in der Komplementärmedizin“ wurden auf der 52. Medizinische Woche vom 31. Oktober bis 4. November 2018 in Baden-Baden propagiert, so auch die angebliche genetisch bedingte Stoffwechselstörung Hämopyrrollaktamurie (HPU). „Obwohl schätzungsweise jede zehnte Frau darunter leidet, erhalten die wenigsten von ihnen die richtige Diagnose“, behauptete die Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin und „Vitalstofftherapeutin“ Liutgard Baumeister-Jesch auf einer Vortragstagung zum Thema „Individuell – komplementär in der Gynäkologie“. Zyklusstörungen oder unerfüllter Kinderwunsch könnten demnach auch Folge einer HPU sein, würden jedoch nicht dahingehend behandelt.
„Häm sorgt als Teil des Hämoglobins für die Sauerstoffversorgung im Blut. Es spielt aber auch für sich genommen eine zentrale Rolle im Energiestoffwechsel und ist entscheidend an den Entgiftungsprozessen in unserem Körper beteiligt“, behauptete Baumeister-Jesch. Bei HPU-Betroffenen arbeiten angeblich mehrere Enzyme ineffizient: Neben dem dringend benötigten Häm werde auch eine nervenschädigende Verbindung, das sogenannte Hämopyrrollaktam, gebildet. Das versuche der Körper „loszuwerden“, indem er dieses „falsche“ Häm an aktives Vitamin B6 und Zink, teilweise auch an Mangan, binde, um es über den Urin ausscheiden zu können.
Für diesen Entgiftungsvorgang werden angeblich große Mengen an Mikronährstoffen verbraucht. „Diese fehlen dann zum einen für die Bildung des ‚richtigen‘ Häm, zum anderen stehen sie für notwendige Entgiftungsprozesse nicht zur Verfügung“, so Baumeister-Jesch. Da Häm für verschiedene Prozesse im Körper benötigt werde, äußere sich ein Mangel daran ebenfalls sehr unterschiedlich, was die Diagnose erschwere: In der gynäkologischen Praxis könne sich die HPU in Menstruationsbeschwerden, Zyklusstörungen, dem Prämenstruellen Syndrom (PMS) oder einem nicht erfüllten Kinderwunsch äußern.
Bei einem Verdacht auf HPU könne ein spezieller Urintest, welcher Hämopyrrollaktam (HPL) im Urin nachweise, Gewissheit verschaffen. „Die Therapie besteht dann in erster Linie darin, die fehlenden Mikronährstoffe, allen voran die aktive Form des Vitamin B6, zusätzlich Zink und meist auch Mangan, dem Körper zuzuführen,“ führte Baumeister-Jesch aus. Zudem riet die „Vitalstofftherapeutin“ dazu, die Entgiftungsprozesse beispielsweise durch die Einnahme von Algen-Präparaten zu unterstützen.
Solche Behauptungen sind nun für den schulmedizinisch tätigen Arzt und für den medizinischen Gutachter verblüffend, wird hier doch eine ausgesprochen fragwürdige Pathophysiologie präsentiert – und das nicht von einer Internistin, Gynäkologin oder Endokrinologin, sondern von einer Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin und „Vitalstofftherapeutin“, die nach eigenen Angaben Seminare zu Themen aus dem Bereich Mikronährstoffe sowie der „Stoffwechselstörung HPU“ gibt und bereits mehrere Bücher hierzu publiziert hat.
Aus kritisch-wissenschaftlicher Sicht ist dagegen festzustellen, dass es sich bei der Hämopyrrollaktamurie (HPU), oft auch als Kryptopyrrolurie bezeichnet, um keine schulmedizinische Diagnose und auch um keine Unterform der Porphyrien, um keine Stoffwechselstörung im medizinischen Sinne und damit auch um keine Erkrankung handelt, wie Martin Merkel, Endokrinologikum Hannover, am 26.6.2017 in den Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) dargelegt hat. Eine auf die erhöhte Ausscheidung von Pyrrolen im Urin aufbauende Diagnose oder Therapie (wie hier von Baumeister-Jesch beschrieben) entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. In der alternativen Medizin, insbesondere der orthomolekularen Medizin, wird die HPU dagegen als „vergessene Stoffwechselstörung“ bezeichnet und verstärkt beachtet, so Merkel.
Es ließ sich jedoch nie ein Zusammenhang mit einem Mangel sogenannter Mikronährstoffe wie Vitamin B6 oder Zink nachweisen, ergänzte Helmut Schatz, Bochum, von der DGE. Holländische Autoren hatten die HPU daher im Jahre 2003 als „Pseudokrankheit“ bezeichnet; in den klassischen Lehrbüchern und auch im ICD-10-Schlüssel taucht sie nirgendwo auf. Im Arznei-Telegramm hatte 2012 der Apotheker U. Hellmann aus Hamburg entsprechend ausgeführt, dass für das Konzept der Kryptopyrrolurie oder Hämopyrrollaktamurie wissenschaftliche Belege fehlen; ebenso gebe es keine sichere Bestätigung der chemischen Identität von Kryptopyrrol bzw. Hämopyrrollaktam im Urin.
Schatz erklärte, er sei in seiner Praxis nie mit der Diagnose HPU konfrontiert worden, was bei einer angeblichen Häufigkeit von 10 % in der Bevölkerung doch erstaunlich ist.
Bei Unternehmen der privaten Krankenversicherung werden allerdings immer wieder Anträge auf Kostenerstattung für eine – typischerweise alternativmedizinisch / orthomolekular orientierte – Behandlung wegen der Diagnose einer angeblichen Hämopyrrollaktamurie (HPU) / Kryptopyrrolurie eingereicht, wie der Referent aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Somit sind Informationen über dieses angebliche Krankheitsbild, dessen Diagnostik und Therapie aus gutachtlicher Sicht durchaus interessant.
Der medizinische Gutachter muss solche komplementär- bzw. alternativmedizinische Behandlungskonzepte kritisch unter den Aspekten der Wissenschaftlichkeit, insbesondere der evidenzbasierten Medizin (EbM), prüfen. Medizinisch notwendig kann eine Behandlung nur sein, wenn die Grundlagen plausibel sind, ein eindeutiges Krankheitsbild vorliegt und eine diagnostische Aussagekraft sowie eine therapeutische Wirksamkeit tatsächlich nachgewiesen sind, was hier alles nicht der Fall ist.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden