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Editorial

Als sich der Beirat im November 2015 zur Themenauswahl für das Heidelberger Gespräch 2016 traf, war ihm die Aktualität des Themas Flucht und Migration durch die vorangegangenen Ereignisse im Herbst dieses Jahres gerade vor Augen geführt worden. Deshalb hielt er es für angebracht, nach der Behandlung dieses Themas beim Heidelberger Gespräch im Jahre 2009 für die kommende Tagung erneut zu den hierbei sich ergebenden Fragen für die Begutachtung einen Themenblock anzusetzen. Die 2009 gehaltenen und immer noch aktuellen Beiträge von Weber, Hausotter, Brückner und Krutzki können zur Ergänzung in der Ausgabe 3/2010 dieser Zeitschrift nachgelesen werden.

Keinesfalls war aber bereits vorauszusehen, welche – auch gesamtgesellschaftliche – Bedeutung bis hin zu Eingriffen in die Parteienlandschaft sich aus den Vorgängen des Herbstes 2015 ergeben würde. Es ist durchaus nicht als neu anzusehen und schon länger mit der Begutachtung befassten Ärzten bekannt, dass ärztliche Gutachter bei der Arbeit im Problemkreis Flucht und Migration schnell zwischen die Fronten geraten können. Von einer Seite wird Ihnen die Erstattung von Gefälligkeitsgutachten zugunsten von Migranten bzw. Flüchtlingen vorgeworfen, von anderer Seite her eine Tätigkeit als Erfüllungsgehilfe allein staatlicher Vorgaben. Der Boden einer sachlichen Auseinandersetzung wird hier nicht selten verlassen und gewinnt im Verlauf auch schnell einmal die Dimension von ideologischen Kampfhandlungen, wobei, um Karl Kraus zu zitieren, dann wie in jedem Krieg die Wahrheit als Erstes zu Schaden kommt.

So wie zu erwarten ist es denn auch gekommen. Im Sommer des Jahres 2016 sorgte eine Äußerung des Bundesinnenministers für Aufregung, der es als „gegen jede Erfahrung sprechend“ bezeichnete, wenn „70 % der Männer unter 40 Jahren vor einer Abschiebung für krank und nicht transportfähig erklärt würden“. Hinterher musste auf Kritik und Nachfragen aus der Ärzteschaft eingeräumt werden, dass die Zahlen nur „im Rahmen diverser Gespräche mit unterschiedlichen Gesprächspartnern“ berichtet worden waren, und keinesfalls auf einer nachvollziehbaren statistischen Erhebung beruhten. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. September 2016 wurde sogar weiter verbreitet, dass die Bundesregierung der Ärzteschaft vorwerfe, mit falschen Attesten Abschiebungen zu verhindern. Es sei zu beobachten, dass in einer Vielzahl von Attesten, erstattet immer wieder von den gleichen Ärzten, ein gleichlautender Inhalt und eine fehlende fundierte Begründung der Reiseunfähigkeit zu finden sei. Abgesehen davon, dass bekannt sein müsste, dass ärztliche Atteste aus Datenschutzgründen eine fundierte Begründung gar nicht beinhalten können, und hinsichtlich der Diagnosen zwanglos das Vorherrschen psychotraumatologischer Ursachen zu erwarten ist, also zumindest Unkenntnis vermutet werden kann, muss der Vorwurf der Ausstellung falsche Atteste als äußerst schwerwiegend angesehen werden, da hier eine vorsätzliche und bewusste Verletzung der ärztlichen Berufsordnung unterstellt wird.

Nach Einschätzung der Bundespsychotherapeutenkammer (Deutsche Medizinische Wochenschrift 2016, 141) muss mindestens die Hälfte aller Flüchtlinge in Deutschland als psychisch krank angesehen werden. Wer die Bilder der kriegerischen Auseinandersetzungen, die Anlass zur Fluchtbewegung gegeben haben, gesehen hat, und weiter die Bilder der Fluchtumstände selbst, kann diese Zahl nicht von vorneherein in Abrede stellen. Nachdenkliche Geister hätte dies vor Abgabe der oben zitierten Äußerungen zweifellos erst einmal zum Innehalten veranlasst. Lesen bildet bekanntlich, und immer als hilfreich anzusehen ist eine Umkehr der Betrachtung durch Versetzen in die Perspektive des anderen.

Jeder erfahrene Gutachter weiß, dass Gefälligkeitsgutachten nicht nur – wie schon erwähnt – gegen die Berufsordnung verstoßen, sondern auch sehr schnell als wertlos erkannt werden, und damit nicht nutzen, sondern Schaden. Gutachtliche Beurteilungen haben nun aber immer, und dies gerade auf psychischem Gebiet, einen gewissen Ermessensspielraum, den nur der den Grundlagen gutachterlicher Tätigkeit Unkundige mit Gefälligkeit verwechseln wird. Hilfe bringt immer eine Literatur, die versucht, die aktuell gesicherten Kenntnisse zusammenzufassend darzustellen und damit allen am Verfahren Beteiligten eine Orientierung in der Diskussion und Beurteilung zu bieten. Dies hoffen der Beirat des „Heidelberger Gesprächs“ und auch die Schriftleitung der Zeitschrift mit der Publikation der Vorträge aus dem Jahr 2016 in dieser Ausgabe der Zeitschrift zu erreichen.

E. Losch, Frankfurt/Main