Wenn, wie im ersten Beitrag dieser Ausgabe von Widder ausgeführt, nach den Daten des statistischen Bundesamtes bei einem Viertel der Bevölkerung in Deutschland ein Migrationshintergrund vorliegt, der ungefähr 70 Nationalitäten umfasst, stellt sich zwangsläufig irgendwann einmal die Frage, ob und wie dieser Umstand Einfluss auf die Beurteilungen des medizinischen Sachverständigen nimmt und wie damit umzugehen ist. Jedem Gutachter wird schon aufgefallen sein, dass allein der Ausdruck eines Leidens kulturspezifische Besonderheiten hat, wobei diese Beobachtung aber auch schon älterer Natur ist und zu Zeiten beschrieben wurde, als Migration wie wir sie heute erleben noch keine Rolle spielte. Der Psychiater Bürger-Prinz wies dazu darauf hin, dass ein depressiver Sachse („eine gewisse weiche Klagsamkeit mit der Tendenz, das Leben in Frage zu stellen“) anders als ein Holsteiner („viel weniger, und viel weniger wortreich“) klagt, und ein Ostpreuße eher über „Bauchschmerzen, Herzbeschwerden, die Füße täten weh und was sonst noch alles“ berichtet.
Zu beachten sind aktuell nun aber zusätzlich Einflüsse, die in der Migration selbst und ihren häufig traumatischen Umständen eine Begründung haben, und in ihrem Einfluss auf die gesamte Symptomatik beachtet werden müssen. Hingewiesen wird in diesem Beitrag auch noch einmal auf die insbesondere für das psychiatrische Fachgebiet sich ergebende Notwendigkeit, bei erforderlichen Dolmetscherdiensten keinen Angehörigen des zu Begutachtenden, sondern einen professionellen Dolmetscher für diese Dienste in Anspruch zu nehmen, was aber wohl immer noch in großem Umfang missachtet wird. Gerade für dieses Fachgebiet wird man fast von einer fehlerhaften Verfahrensweise durch die unterlassene Hinzuziehung eines neutralen Dolmetschers reden
können.
Kriminalprognostische Gutachten müssen nach der Novellierung des § 63 StGB, bedingt durch die hierin vorgegebene engmaschiger als früher nachzuprüfende Notwendigkeit von Unterbringungsvoraussetzungen, in größerer, Anzahl als früher erstellt werden, was auf eine zu geringe Anzahl an hierfür qualifizierten Gutachtern trifft, woraus sich zwangsläufig lange Wartezeiten ergeben, die gerade den Zielsetzungen dieses Gesetzes zuwiderlaufen. Vorschläge zur Verbesserung dieser Situation finden sich im nachfolgenden Beitrag von
Dette und Mitautoren. Ergänzend verwiesen werden kann zu dieser Problematik auch auf die erst kürzlich erschienenen Beiträge von Prüter-Schwarte und Mitautoren in Ausgabe 5 und von Muysers in Ausgabe 6 des Jahrgangs 2019 dieser Zeitschrift.
Die letzten beiden Beiträge dieser Ausgabe beschäftigen sich mit Aufgaben des medizinischen Sachverständigen in der Privatversicherung. Der Beitrag von Hütt erklärt die Abgrenzungskriterien zwischen ambulanter und stationärer Behandlung im Bereich der privaten Krankenversicherung. Beobachtungen eines ehemaligen Obersten Richters und Versicherungsombudsmannes zu Ansprüchen an Form und Inhalt versicherungsmedizinischer Gutachten schließen die Ausgabe ab. Zweifellos beachtenswert erscheint in diesem Beitrag neben der Forderung an fachliche Kompetenz, Objektivität und Unabhängigkeit des Sachverständigen der abschließende Hinweis des Autors, dass der medizinische Gutachter auch in allen seinen Betrachtungen „die Sicht des Versicherungsnehmers“ mit bedenken sollte.
Für den Terminkalender der Leserschaft seien der 23. und 24. September 2020 zum Eintrag empfohlen, an diesen Tagen findet das 33. Heidelberger Gespräch statt. Die vorgesehenen Themen können der folgenden Seite dieser Ausgabe entnommen werden, oder sind auch unter www.heidelberger-gespraech.de einzusehen.
E. Losch, Frankfurt am Main