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Editorial

Der Psychiater hat es schwerer, als der Chirurg. Von der Seele lässt sich kein Teil wegschneiden.

Walter Ludin, Schweizer Journalist

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich überlasse es Ihnen, ob Sie Walter Ludin zustimmen. Wenn man sich mit der psychiatrischen Behandlung und Begutachtung von Traumapatienten beschäftigt, wird man ihn jedenfalls umformulieren müssen: Der Psychiater hat es schwerer, weil er Verletzungen der Seele nicht sehen oder messen kann.

Damit sind wir auch schon mitten im Problem: Die differenzialdiagnostische Feststellung und Behandlung psychiatrischer Gesundheitsbeeinträchtigungen sowie die Beurteilung eines eventuellen Ursachenzusammenhangs nimmt in den letzten Jahren nicht nur immer größeren Raum ein, sondern man hat auch das Gefühl, die medizinischen Auffassungen gehen immer weiter auseinander. Medizinische Laien, zu denen ja auch die meisten im Sozialgerichtsverfahren Beteiligten nun einmal gehören, können die oft engagiert, manchmal auch emotional geführten Diskussionen der Sachverständigen oft nicht nachvollziehen, geschweige sich eine fundierte Überzeugung bilden.

Man nehme als Beispiel nur den medizinischen Meinungsstreit um den Nachweis eines psychischen Erstschadens bei einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Jüngst hörte ich von einem Fall, bei dem ein Beifahrer in einem Auto unmittelbar nach einem schweren Unfall, noch im Unfallfahrzeug sitzend, den abgetrennten Kopf des Fahrers – seines Arbeitskollegen – auf seinem Schoß vorfand. Ein im Sozialgerichtsverfahren beauftragter psychiatrischer Sachverständiger gelangte zu dem Ergebnis, es liege kein psychischer Erstschaden vor, weil der Betroffene im Zuge seiner späteren Rettung nach außen wenig beeindruckt erschienen sei. Das läuft letztlich darauf hinaus, dass jemand nur dann einen psychischen Erstschaden hat, der sich im Anschluss an einen Unfall besonders auffällig benimmt. Kaum einem, der davon hört, will das so recht in den Kopf. Ich denke gerade auch an das – überwiegend ehrenamtlich tätige – Rettungspersonal, das seine persönliche Betroffenheit und sein Entsetzen am jeweiligen Unglücksort erst einmal gedanklich in den Hintergrund drängt, um anderen konzentriert helfen zu können. Vorerfahrungen und ein professioneller Umgang mögen die Auswirkungen psychischer Belastungen mindern – es bedeutet aber nicht, dass man gegen diese immun ist!

Ein wissenschaftlicher Austausch war und ist dringend notwendig. Die Kommission SGB VII des Deutschen Sozialgerichtstages (DSGT) e. V., die sich interdisziplinär und unabhängig mit den Fragen der gesetzlichen Unfallversicherung beschäftigt, lud deshalb am 16. Januar 2020 zu einem Praktiker-Workshop in die Räume des Bundessozialgerichts ein, um die Entwicklungen und Probleme der neurologisch-psychiatrischen Begutachtung zu diskutieren. Allein die Teilnahme von fast 200 Personen zeigt die praktische Relevanz des Themas. Vor Ihnen liegen nun erstmals und gesammelt die Beiträge der namhaften Fachleute juristischer und medizinischer Profession, die für diese Veranstaltung gewonnen werden konnten.

Ich denke, Sie werden mir nach der Lektüre beipflichten, dass der Workshop eine wichtige Wegmarke der laufenden Fachdiskussionen ist. Nur beispielhaft sei herausgegriffen: Aus dem Vortrag von Spellbrink wurde erstmals hinreichend deutlich, dass der Meinungsstreit um den Nachweis eines psychischen Erstschadens zu einem Gutteil auf der Fehlinterpretation der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts beruht. Juristisch ist ein psychischer Erstschaden für die Anerkennung eines Ereignisses als Arbeitsunfall nicht zu fordern. Juristisch notwendig ist allein eine Prüfung der medizinischen Voraussetzungen der PTBS zur Klärung einer Ursachenbeziehung zwischen einem Arbeitsunfall und einem psychischen Gesundheitsschaden (sog. haftungsbegründende Kausalität). Nur in diesem Rahmen ist medizinisch zu klären, ob ein psychischer „Erstschaden“ notwendige Voraussetzung für die Diagnose einer PTBS ist. Wegweisend sind auch die Ausführungen von Drechsel-Schlund: Die von ihr aufgezeigten unverkennbaren Fortschritte bei der Qualität der psychiatrischen Begutachtung sind beruhigend. Wenig beruhigend ist aber die Erkenntnis, dass es bislang keinen konsentierten Expertenstandard für die Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) im Bereich der psychiatrischen Begutachtung gibt. Es gibt also auch in Zukunft noch viel zu tun!

Dr. jur. Oliver Schur

Richter am LSG Niedersachsen-Bremen