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Zum Beitrag von Fabra, M.: Posttraumatische Belastungsstörung, „initiale Gesundheitsbeein­trächtigung“ und Erststschaden aus medizinischer Sicht, in MedSach-Ausgabe 1/2021, 6ff

Im Beitrag „Posttraumatische Belastungsstörung, ‚initiale Gesundheitsbeeinträchtigung‘ und Erstschaden aus medizinischer Sicht“ setzt sich Fabra (Fabra, 2021) mit der von Spellbrink (Spellbrink, 2020) vorgebrachten Kritik an dem Konzept eines Erstschadens bei der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) auseinander. Die von Spellbrink verneinte juristische Notwendigkeit des Nachweises eines Erstschadens wird von Fabra aus medizinischer Sicht zurückgewiesen.

Nach Fabra vollziehe sich die Entwicklung einer PTBS in drei Etappen: 1. Schock/Entsetzen/Aufschrei – 2. Initiale Reaktion und 3. PTBS. Die nach einem punktuellen Schockerleben einsetzende „Initiale Reaktion“ umfasse traumatische bedingte Symptome, die jedoch im Vergleich zur PTBS nur in Unterzahl vorlägen. Erst bei Fortgang eines „prozesshaften“ Verlaufs mit Zunahme der Symptombildung und einer Dauer von mindestens 4 Wochen könne ggf. eine PTBS festgestellt werden.

Die initiale Reaktion bei späterer PTBS stelle hier einen Erstschaden dar. Nur wenn dieser vorgelegen habe, dürfe eine PTBS diagnostiziert werden und nur dann sei eine entschädigungsrelevante Kausalität möglich. Auch bei körperlichen Verletzungen greife die Unterscheidung von Erst- und Folgeschaden. Beispielsweise könne es bei einer Gewalteinwirkung auf das Gehirn zunächst zu einem „Strukturschaden“ kommen, der dann u. a. Ursache für Lähmungen sein könne.

Diese Analogiebildung ist allerdings nicht überzeugend. Wenn jemand durch einen Schlag auf den Kopf augenblicklich in ein Koma fällt, das nach 4 Wochen schrittweise abklingt, macht die Unterscheidung von Erst- und Folgeschaden für diesen Zeitraum keinen Sinn. Dies gilt etwa auch für den plötzlichen Verlust einer Hand infolge eines Arbeitsunfalls.

Psychische Erkrankungen verlaufen demgegenüber typischerweise mehrstufig. Beispielsweise bestehen zu Beginn einer Depression vielfach unspezifische Symptome wie etwa Schlaf- und Konzentrationsstörungen sowie vermehrte Erschöpfbarkeit. Im Weiteren kann es dann zu einer Symptomausweitung kommen, so dass die Kriterien für eine leichte, mittelschwere oder schwere depressive Episode erfüllt sein können. Ähnliches gilt für die PTBS. Auch hier finden sich initial oftmals z. B. vegetative, kognitive oder emotionale Veränderungen. Diese können sich ausweiten und schließlich zum Vollbild einer PTBS führen. Eine PTBS ist nach der ICD-10 zu diagnostizieren, wenn eine katastrophale Belastung bestand und anschließend Symptome aus drei verschieden Bereichen auftreten.

Eine endgültige Diagnose wird bei psychischen Störungen stets nach Maßgabe der maximalen Symptomausprägung gestellt. Liegt beispielsweise eine schwere depressive Episode vor und bestanden davor lediglich Einschränkungen in Form einer leichten depressiven Episode, ist anschließend eine schwere depressive Episode festzustellen. Eine vorherige leichte depressive Episode ist nicht zu benennen. Sie war ggf. nur dann und nur so lange anzugeben, wie eine höhergradige Manifestation noch nicht vorlag.

Eine PTBS ist erst dann zu diagnostizieren, wenn die entsprechenden Kriterien im Verlauf vollständig erfüllt sind. Eine etwaige Vorläufersymptomatik ist dieser Diagnose im Nachhinein zuzurechnen und nosologisch nicht von ihr zu trennen. Auch in der internationalen forensischen Literatur spielen Prodromal­erscheinungen bei der Beurteilung der PTBS keine ausschließende Rolle (z. B. Young, 2016). Sie liegt somit faktisch nicht nur vor, wenn das Vollbild besteht, sondern auch in den Stadien der Entstehung und des Abklingens.

Der Hinweis von Fabra auf eine 4-wöchige Mindestdauer der PTBS in der ICD-10 trifft so nicht zu. Diese wird nur im DSM-5 vorausgesetzt. Das E-Kriterium der ICD-10 besagt lediglich, dass die Symptome innerhalb von 6 Monaten nach dem Ereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode aufgetreten sein sollen. Eine Mindestdauer der PTBS-Symptomatik ist dort nicht festgelegt.

Die PTBS entsteht charakteristischerweise nicht plötzlich, sondern schrittweise. Dies ist aber nicht notwendigerweise der Fall. Weder sehen die Vorgaben von ICD-10 und DSM-5 noch systematische Darstellungen der PTBS ein homogenes Verlaufsmuster vor. Vielmehr ist eine hohe Variabilität von Reaktionen auf Traumatisierungen bekannt. Demnach sind heterogene Entwicklungen zu einer PTBS „nicht die Ausnahme, sondern die Regel“ [1]. Ein gesetzmäßiger Schematismus in Form von Schock/Entsetzen/Aufschrei – Initiale Reaktion – PTBS wird in der medizinischen Fachliteratur nicht vorausgesetzt.

Eine Differenzierung von Erst- und Folgeschaden kann plausibel sein, wenn es etwa nach einem unfallbedingten Knochenbruch zu einer Thrombose kommt oder wenn infolge einer schädigungsbedingten Depression eine Suchtproblematik einsetzt. Eine weitergehende regelmäßige Binnendifferenzierung von Störungsbildern im Hinblick auf ihren Verlauf würde entsprechende allgemeine Erkenntnisse voraussetzen; diese liegen für die PTBS aber nicht vor.

Der von Fabra vertretene Ansatz führt zwangsläufig dazu, eine PTBS als Schädigungsfolge auszuschließen, selbst wenn ein katastrophales Trauma erwiesen, eine zeitnah einsetzende PTBS gesichert und eine konkurrierende Kausalität zu verneinen ist.

Die in dieser Form geforderte Stellung eines Erstschadens ist allerdings mit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse nicht in Einklang zu bringen. Wenn darüber hinaus – wie von Spellbrink dargelegt – auch keine generelle rechtliche Notwendigkeit für die Tatsache eines Erstschadens in der von Fabra postulierten Form besteht, muss auf dessen ausnahmsloser Existenz aus medizinischer Sicht wohl nicht notwendigerweise bestanden werden.

Literatur

1 AWMF: Posttraumatische Belastungsstörung. S3 Leitlinie, Version 19.12.2019. www.awmf.org (aufgesucht am 08.02.21)

2 Fabra, M. (2021), Posttraumatische Belastungsstörung, „initiale Gesundheitsbeeinträchtigung“ und Erstschaden aus medizinischer Sicht. Med Sach, 117, 6-14

3 Spellbrink, W. (2020), Die Prüfung des Vorliegens eines Arbeitsunfalls gem. §8 Abs. 1 SGB VII am Beispiel der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) MedSach, 116, 114-119

4 Young, G. (2016) PTSD in Court I: Introducing PTSD for Court. International Journal of Law and Psychiatry, 49, 238-258

Anschrift des Verfassers

Dr. med. Wolfgang Wölk
Facharzt für Psychiatrie
Psychotherapie - Sozialmedizin
Medizinische Begutachtung
MDK Westfalen-Lippe
Roddestraße 12
48153 Münster

Antwort des Verfassers:

Es sei dem Kollegen Woelk dafür gedankt, dass er sich dieses nach Auffassung des Verfassers brisanten Themas aus Lesersicht angenommen hat. Die folgenden Kommentare werden jedoch für erforderlich erachtet:

  • Das von ihm modifizierte Beispiel des (substanziellen) Hirntraumas ist wie folgt einzuordnen: Wenn jemand nach einer schweren Gewalteinwirkung auf sein Gehirn unmittelbar ins Koma fällt, so stellt dieses Koma das klinische Korrelat des (strukturellen) Hirnschadens und damit die „initiale Gesundheitsbeeinträchtigung“ dar. Wenn die Person aber nach Wiedererwachen aus dem Koma ein postcontusionelles psychoorganisches Syndrom entwickelt, so ist dies der „initialen Gesundheitsbeeinträchtigung“ nicht mehr zuzurechnen. Dieses letztere stellt das Analogon zur PTBS nach seelischer Traumatisierung (als „Traumafolgestörung“) dar. Wenn jemand „plötzlich eine Hand als Folge eines Arbeitsunfalles“ verliert, so stellt dieser Verlust medizinisch die „initiale Gesundheitsbeeinträchtigung“ und aus Sicht des Rechtsanwenders wohl sicherlich den „Gesundheitserstschaden“ dar, anders wäre ein Arbeitsunfall nicht gegeben. Wenn diese Person aber nach einer Latenz einen Phantomschmerz entwickelt, so wäre dieser nicht mehr der „initialen Gesundheitsbeeinträchtigung“ zuzurechnen, käme es zu einer Depression, so wäre diese unter der Frage des Folgeschadens, und kaum des Erstschadens im Unfallzusammenhang zu diskutieren. Dies ist mit der PTBS nicht anders.
  • Die Diagnose PTBS ist nach den Vorgaben der Internationalen Diagnosesysteme dann zu stellen, wenn die hierfür in Frage kommenden Kriterien in der erforderlichen Anzahl der Subkriterien erfüllt sind, vorher und ansonsten nicht. Dies findet sich eindrucksvoll in der Diskussion der Umformulierung der Diagnose „PTBS mit verzögertem Beginn (with delayed onset)“ im DSM IV(-TR) zu „... mit verzögertem Ausdruck (with delayed expression)“ im DSM-5, die leider in der deutschen Übersetzung untergeht. Würde man gerade hier auf das Konstrukt der „initialen
    (seelischen) Gesundheitsbeeinträchtigung“ verzichten, so hätte man womöglich über Monate oder sogar Jahre nach dem Ereignis keinen „Gesundheitserstschaden“, was bei „Schockunfällen“ (Unfällen mit ausschließlich seelischen Verletzungsfolgen) dazu führen müsste, dass ein Arbeitsunfall erst mit beträchtlicher Latenz zum Unfallereignis, im Einzelfall womöglich Jahre danach, und dann mit dem Zeitpunkt der im Vollbild festgestellten PTBS anerkannt werden könnte. Dies kann medizinisch nicht begründbar sein.
  • Wie will man eine medizinisch anerkannte Gegebenheit tragfähiger begründen als durch Verweis auf ein Standardlehrwerk und mehrere Leitlinien?
  • Es wird nicht gesehen, dass der „von Fabra vertretene Ansatz zwangsläufig dazu führt, eine PTBS als Schädigungsfolge auszuschließen, selbst wenn ein katastrophales Trauma erwiesen, eine zeitnah einsetzende PTBS gesichert und eine konkurrierende Kausalität zu verneinen ist“. Das Gegenteil ist der Fall: Wie mit den in meinem Aufsatz vorgetragenen Beispielen zu belegen versucht werden sollte, ermöglicht die Empfehlung der/des Sachverständigen, eine initiale Gesundheitsbeeinträchtigung sei gegeben, dem Rechtsanwender erst die Prüfung, ob ein seelischer Gesundheitserstschaden und damit ein Arbeitsunfall anzuerkennen ist. Es wird der verletzten Person damit die Möglichkeit, eine Versicherungsleistung zu erhalten nicht verschlossen, sondern im Gegenteil erst eröffnet.
  • Vermutlich macht Kollege Woelk hier erneut den in Gutachten und auch wissenschaftlichen Aufsätzen zur Begutachtung leider viel zu häufig angetroffenen Fehler, die Gegebenheit der initialen seelischen Gesundheitsbeeinträchtigung mit deren Nach-außen-Treten und damit deren Nachweisbarkeit durch Beobachtung zu verwechseln. Hier ist aber die integrierende Sichtweise des/der Sachverständigen gefragt, mit der dem Rechtsanwender dazu geraten oder davon abgeraten werden muss, von einem seelischen Gesundheitserstschaden auszugehen.
  • Anschrift des Verfassers

    Dr. med. Matthias Fabra
    Med. Gutachteninstitut
    Hamburg - Rostock - Berlin - Hannover - Bremen
    Mönckebergstr. 5
    20095 Hamburg

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