Zusammenfassung
Grundlage der Leistung eines privaten Unfallversicherers ist die Invalidität, die ärztlich fristgerecht festzustellen ist. Der Versicherer gibt pauschalierte Sätze der Gliedertaxe für Verlust oder Funktionsunfähigkeit vor und der ärztliche Sachverständige muss dann auf allgemein anerkannte Bemessungsempfehlungen zurückgreifen können, um den vorgegebenen Rahmen auf die konkrete, individuelle Situation des Versicherten anwenden zu können. Es handelt sich in dieser Arbeit um fachübergreifend konsentierte Eckwerte der Invaliditätsbemessung, die Grundlage einer einheitlichen ärztlichen Begutachtung von unfallbedingten Funktionsstörungen in der privaten Unfallversicherung sein sollen.
Mit Veröffentlichung dieser Bemessungsempfehlungen der FGIMB werden die Empfehlungen von Schröter/Ludolph aus 2009 zurückgenommen, so dass jetzt die Bemessungsempfehlungen der Fachgesellschaft Interdisiplinäre Medizinische Begutachtung (FGIMB e. V.) an deren Stelle maßgeblich sind.
Schlüsselwörter private Unfallversicherung – Gliedertaxe – Konsentierte Bemessungsempfehlungen – Invaliditätsbemessung – Beeinträchtigung körperlicher Leistungsfähigkeit
MedSach 120 6/2024: 263–274
Recommendations for assessing invalidity in private accident insurance – Interdisciplinary consensus – as at 06/2024
Abstract
The basis of the service of a private accident insurer is the invalidity benefit, which must be determined by a physician in a timely manner. The insurer specifies the flat compensation rates in the dismemberment schedule for loss or inability to function and the medical expert must then refer to generally accepted assessment recommendations in order to apply the given framework to the specific individual situation of the insured person. This article examines the interdisciplinary consensus on key values for the assessment of disability, which should form the basis of a standardised medical assessment of accident-related functional disorders in private accident insurance.
Following the publication of these new assessment recommendations of the FGIMB, the recommendations published by Schröter/Ludolph in 2009 will be withdrawn, so that the assessment recommendations of the FGIMB will apply in their place.
Keywords private accident insurance – dismemberment schedule – consensus assessment recommendations – invalidity assessment – impairment of physical performance
Vorbemerkungen
Die Bemessungsempfehlungen (Publikation zu den Grundlagen erhältlich bei Springer http://dx.doi.org/ 10.1007/s00113-023-01344-7) wurden erarbeitet unter Beteiligung ärztlicher Fachgesellschaften, mit gutachtlicher Materie vertrauter Institutionen und Personen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Eine ausführliche Darstellung über die Erarbeitung und die konkreten Begründungen zu den Einzelwerten erfolgte bereits in einer Grundlagenpublikation (Klemm et al., 2022a, 2022b, 2022c; Klemm et al., 2023).
Die vorliegenden Bemessungsempfehlungen werden in Abständen evaluiert und aktualisiert. Eine Arbeitsgruppe analysiert Hinweise von Anwendern zu eventuellen Wertungswidersprüchen und nimmt gegebenenfalls Korrekturen oder Ergänzungen vor. Während in dieser Arbeit die Eckwerte vorzugsweise in Tabellenform dargestellt sind, ist die jeweils aktuelle Version online visualisiert und erreichbar unter www.invaliditaet-online.de (Klemm, 2024), dort werden alle Gelenkstellungen von unserem 3D-Modell (genannt: INVATAR) vorgeführt, so dass Bewertungen auch für Nicht-Mediziner wie Juristen, Sachbearbeiter und/oder Betroffene nachvollziehbar werden.
Bezugspunkt für die Invaliditätsbemessung sind die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (Musterbedingungen, herausgegeben vom Gesamtverband der Versicherer (GDV, 2020). Die Eckwerte der Invalidität sind zunächst in Tabellenform dargestellt und für den Bereich der Gliedertaxe aufgeteilt in die Komplexe Verlust (A) – Versteifung (B) – Funktionsbeeinträchtigung (C), jeweils beginnend mit dem größten Funktionsverlust. Ebenso sind Eckwerte für Funktionsstörungen außerhalb der Gliedertaxe angegeben.
Abkürzungen
A = Armwert, H = Handwert, D = Daumenwert, Fi = Fingerwert, B = Beinwert, F = Fußwert, Gz = Großzehenwert, Z = Zehenwert, ΔGDW = Delta des Grund-Deckplatten-Winkels, DGUV = Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung
Gliedertaxe – Obere Gliedmaßen
A – Verlustwerte
AUB-Musterbedingungen (Deutschland, Stand 2020)
Arm 70 %
Arm bis oberhalb des Ellenbogengelenks 65 %
Arm unterhalb des Ellenbogengelenks 60 %
Hand 55 %
Daumen 20 %
Zeigefinger 10 %
Anderer Finger 5 %
B – Versteifungswerte
C – Werte für Funktionsbeeinträchtigungen
Gliedertaxe - Untere Gliedmaßen
A – Verlustwerte
AUB-Musterbedingungen (Deutschland, Stand 2020)
Bein über der Mitte des Oberschenkels 70 %
Bein bis zur Mitte des Oberschenkels 60 %
Bein bis unterhalb des Knies 50 %
Bein bis zur Mitte des Unterschenkels 45 %
Fuß 40 %
Große Zehe 5 %
Andere Zehe 2 %
B – Versteifungswerte
Es gilt der Grundsatz: Je stammnäher die Versteifung, desto ausgeprägter ist das Funktionsdefizit.
C – Werte für Funktionsstörungen
Thrombosefolgen und unfallbedingte Lymphödeme
Diese sind in der Regel durch einen internistischen/angiologischen Gutachter unter Beachtung der Leitlinien zur Diagnostik und Therapie der Venenthrombose und Lungenembolie zu beurteilen. Insbesondere bei einem eindeutig zu definierenden postthrombotischen Syndrom geht es vor allem um den doppler-/duplexsonografischen Befund und die Bemessung eines begleitenden Ödems. Eine blutgerinnungshemmende Therapie ist außerhalb der Gliedertaxe zu bemessen. Eine Umfangsvermehrung sagt noch nichts aus über die (wiedererlangte) Durchgängigkeit des Gefäßsystems und kann nicht alleinig Grundlage einer Invaliditätsbemessung sein.
Ist die Durchgängigkeit der Gefäße nach einer Thrombose sonografisch belegt, liegt keine Klappeninsuffizienz vor und beträgt die Umfangsdifferenz weniger als 2 cm, kann auf eine Zusatzdiagnostik/Zusatzbegutachtung verzichtet werden, da dann keine Invalidität bemessen werden kann.
Empfehlungen werden aktuell mit den internistischen Fachkollegen diskutiert und werden nach Konsentierung unter invaliditaet-online.de abrufbar sein.
Unfallbedingte Arthrosen
Für die Beurteilung von Funktionsbeeinträchtigungen durch eine unfallbedingte Arthrose ist - wie grundsätzlich - der Zeitpunkt der Erstbemessung (12 bzw. 15 Monate nach Unfall) maßgeblich. Auf diesen Zeitpunkt muss der Ist-Zustand und dessen Prognose bezogen werden. Kommen zu diesem Zeitpunkt umformende Gelenkveränderungen bildgebend nicht zur Darstellung, kann die Möglichkeit negativer Veränderungen einer Prognose nicht zugrunde gelegt werden. Kommen sie aber bildgebend zur Darstellung, ist die Frage der Relevanz in Bezug auf die Prognose zu stellen, denn selbst bildgebend gesicherte Arthrosen müssen nicht zwangsläufig auch mit einer invaliditätsrelevanten Verschlechterung der Gelenkfunktion verknüpft sein.
Nur wenn also zum Zeitpunkt der Erstbemessung eine unfallbedingte Arthrose bildgebend gesichert ist und daraus resultierende Funktionseinschränkungen vorliegen, ist deren weitere Prognose zu beachten. Liegen demgegenüber zum Zeitpunkt der Erstbemessung funktionell nicht relevante unfallbedingte Arthrosezeichen vor, so ist eine Neubemessung kurz vor Ablauf des vereinbarten Regulierungszeitpunkts zu veranlassen (regelhaft vor Ablauf des 3. Unfalljahres).
Unfallbedingte Endoprothesen
Pauschalierte Endoprothesenzuschläge in Abhängigkeit vom Alter sind nicht zu rechtfertigen. Es ist gutachtlich eine Beurteilung der Gelenkfunktion vorzunehmen und dann zu berücksichtigen, dass der Endoprothesenträger allein durch die einliegende Prothese funktions-, leistungs- und belastungslimitiert ist. Der ärztliche Sachverständige muss also dazu Stellung nehmen, inwieweit prothesen-, material-, zugangs- und/oder instrumentierungsassoziierte Folgen neben z. B. der Störung der Propriozeption vorhanden sind. Weiter muss er beurteilen, ob allein durch das Vorhandensein der Endoprothese bestimmte Funktionen z. B. aus präventiven Gründen vermieden werden müssen. Diese Faktoren wirken sich invaliditätsrelevant auf die Prognosebeurteilung aus, was in der Regel eine Invalidität von mindestens 1/20 Extremitätenwert nach sich zieht.
Invalidität außerhalb der Gliedertaxe
Wirbelsäule
Die gutachtliche Bemessung von verbliebenen Funktionsbeeinträchtigungen am Achssystem bzw. nicht paarigen Organen des Menschen stellt den ärztlichen Sachverständigen vor ganz besondere Herausforderungen. Der Sachverständige muss alle Einflussfaktoren auf das funktionelle Endergebnis kennen, die sich bereits aus Art und Ausmaß der Erstgesundheitsschädigung aber auch aus den unterschiedlichen Ausheilungsmöglichkeiten in Abhängigkeit von der betroffenen funktionellen Bewegungsregion der Wirbelsäule ergeben.
Die Invalidität ist nicht punkt-/prozentgenau zu beziffern. Außerdem sind auch nach langstreckigen Versteifungen im Bereich mehrerer funktioneller Bewegungsregionen kaum Funktionsstörungen vorstellbar, die eine Invaliditätsbemessung über 30 % rechtfertigen könnten, wenn keine zusätzlichen neurologischen Ausfälle vorliegen. Dies bedürfte einer individuell sehr plausiblen Erklärung. Würde man nun einer Systematik der Abstufung der Invalidität in 5er Schritten folgen, so zeigt die Erfahrung, dass damit die verschiedenen Funktionsdefizite nicht ausreichend abzubilden sind, also auch Bemessungen z. B. zwischen den Werten 5 und 10 zu diskutieren sind, also 2,5 usw. Das scheint zunächst ein Widerspruch zur fehlenden Möglichkeit einer punktgenauen Invaliditätsbemessung, bestimmt aber letztlich nur systematisch einen definierten Zwischenwert.
In der nachfolgenden Systematik finden die erheblichen funktionellen Unterschiede verschiedener Wirbelsäulenabschnitte Beachtung. Unfallbedingt verbliebene Formverbildungen oder Versteifungen können nicht losgelöst vom betroffenen Wirbelsäulenabschnitt beurteilt werden. Die Versteifung eines Bewegungssegments der Halswirbelsäule zieht andere Funktionsstörungen nach sich als die eines Bewegungssegments der Brustwirbelsäule oder wieder andere bei Betroffenheit des thorakolumbalen Übergangs (Brust-Lendenwirbelsäulenübergang). Unabdingbar ist auch die Beantwortung der Frage nach dem Vorliegen einer Störung des sagittalen (Ebene, die sich von oben nach unten wie von hinten nach vorn im Körper erstreckt – teilt also den Körper in einen linken und rechten Anteil) Profils mit Abweichung desselben vom ehemals (vor dem Unfall bestehenden) Profils der Wirbelsäule (ΔGDW).
Aufgrund der erheblichen anatomischen und biomechanischen Unterschiede innerhalb des Achsenskeletts ist eine Gliederung zielführend, die neben anatomischen und biomechanischen Gesichtspunkten auch die jeweiligen funktionellen Besonderheiten berücksichtigt. Auf Grund der differenten Anzahl von Spinalnervsegmenten an der Halswirbelsäule wird eine Nomenklatur verwendet, die sich an der knöchernen Struktur orientiert, nämlich dem Wirbel selbst. Auch wird bewusst von einem Wirbel (z. B. HW2 für 2. Halswirbel) und nicht einem Wirbelkörper (z. B. HWK2 für 2. Halswirbelkörper) gesprochen, da Letzterer nur ein Teil des Wirbels darstellt.
Die Kopf-Halsgelenke bilden zusammen mit der oberen Halswirbelsäule (Atlas und Axis) eine funktionell geschlossene Einheit (Putz, 1981).Die HW1/HW2 Gelenke sind auf Rotation ausgelegt. Das Zapfengelenk des Dens axis (Zahnfortsatz des 2. Halswirbels) ermöglicht 20 bis 30° Rotation zu jeder Seite. Bis zu 70 % der Kopfdrehung erfolgen aus diesem unteren Kopfgelenk, der Rest aus der übrigen HWS.
Die subaxiale HWS ist der wesentliche Bereich für die Seitneigung sowie Beugung und Streckung der Halswirbelsäule. Für die Rotation spielen diese Bewegungssegmente verglichen mit dem unteren Kopfgelenk (HW1/HW2) nur eine untergeordnete Rolle.
In dieser Junktionszone trifft die Halswirbelsäule mit ihrem hohen Grad an Mobilität und Flexibilität auf die durch den Brustkorb stabilisierte und rigidere Brustwirbelsäule. Ähnlich dem Übergang zwischen Brust- und Lendenwirbelsäule ist dieser Abschnitt bedeutenden Belastungen ausgesetzt und wird bei Unfällen daher häufiger verletzt.
Im Vergleich mit der Hals- und Lendenwirbelsäule ist die segmentale Beweglichkeit der Brustwirbelsäule, insbesondere für Beugung/Streckung, mit einer Amplitude von in der Regel unter 5° gering. Aufgrund der höheren Anzahl an Bewegungssegmenten hat dieser Wirbelsäulenabschnitt dennoch Bedeutung für die Beweglichkeit der Wirbelsäule im Gesamten (Seitneigung und Rotation).
Dieser Übergangsbereich nimmt eine Sonderstellung innerhalb der Wirbelsäule ein. Mehr als die Hälfte aller Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule betreffen die Region zwischen BW10 und LW2. Verantwortlich hierfür sind der Wechsel von der Kyphose (nach rückenwärts verstärkte Krümmung) der Brust- in die Lordose (Krümmung der Wirbelsäule nach vorn) der Lendenwirbelsäule, der Wegfall der stabilisierenden Wirkung des Brustkorbes und die Änderung der Ausrichtung der Wirbelgelenke von einer vorwiegend frontalen Stellung im BWS-Bereich zu einer nahezu sagittalen Orientierung im LWS-Bereich, was mit einem sprunghaften Anstieg der Rotationssteifigkeit verbunden ist (White & Panjabi, 1990). Aufgrund der großen Rotationsmöglichkeit kommt diesem Übergang funktionell besondere Bedeutung zu.
Aufgrund der fast sagittalen Ausrichtung der Wirbelgelenke sind in diesem Abschnitt nur minimale Rotationsbewegungen möglich. Die mittlere Bewegungsamplitude für Flexion/Extension steigt vom thorakolumbalen zum lumbosakralen Übergang sukzessive an. Mit einer Amplitude von durchschnittlich 20° für Extension/Flexion besitzt das Bewegungssegment LW5/SW1 die größte segmentale Beweglichkeit der gesamten Wirbelsäule in dieser Raumebene.
Ist die Wertigkeit der Bewegungsregion geklärt, muss der ärztliche Sachverständige Stellung nehmen zu folgenden Fragen:
Nach diesen Kriterien kann ein Vergleich der Funktionsparameter mit Referenzwerten erfolgen. Der Gutachter kann die aktuelle Situation des von ihm Begutachteten mit konkreten guten und schlechten Ausheilungsergebnissen in der von ihm zu beurteilenden Region vergleichen und dann schlüssig seine Invaliditätsbemessung begründen. Die Referenzwerte der Bemessungsempfehlung sind zu erreichen über die Homepage der FGIMB (FGIMB, 2024) oder ab Sommer 2024 unter den fachübergreifend konsentierten Bemessungsempfehlungen invaliditaet-online.de (Klemm, 2024).
Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass keine Invaliditätswerte anhand einzelner Messparameter zu bestimmen sind, wie z. B. „ab einem ∆GDW von x oder y resultiert eine „Mindest“-Invalidität von z. B. z“. Dafür sind die Einflussfaktoren auf das Funktionsdefizit des Achsorgans zu vielschichtig.
Becken
Im Bereich des Beckens können nach Verletzungen regelhaft auch Unfallverletzungsfolgen bestehen bleiben, die einer gutachtlichen Untersuchung nur schwer zugänglich sind. Bei gesicherter Erstgesundheitsschädigung sind einerseits die bildgebenden Veränderungen wie z. B. Knochennarben oder MR-tomo-/szintigrafische Nachweise von Reizzuständen zu beschreiben und andererseits ist der ärztliche Sachverständige gehalten, die in diesem Zusammenhang nachweisbaren Funktionsbeeinträchtigungen möglichst genau zu beschreiben und einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen. Der Gutachter muss also subjektive Beschwerdeangaben an nachweisbaren Funktionsbeeinträchtigungen plausibel machen oder bei fehlendem Nachweis von funktionellen Beeinträchtigungen ausschließen:
Diese Funktionsstörungen müssen durch möglichst viele bildgebende und klinische Befunde gestützt oder widerlegt werden:
Auch im Bereich des Beckens gilt, dass bei normüberschreitenden nozizeptischen und/oder neuropathischen Schmerzen eine neurologische bzw. psychiatrische Zusatzbegutachtung veranlasst werden sollte.
Brustkorb, Brustbein, Rippen
Bei stabil verheilten Brüchen des Brustbeins ohne erkennbare Knochennarbe resultiert regelhaft keine messbare Invalidität. Bei Ausheilung mit Achsenknick je nach Ausprägung der Funktionsstörung ist eine Invalidität um 5 % zu erwarten.
Knöchern ohne jegliche erkennbare Knochennarben oder Fehlstellung ausgeheilte Rippenbrüche lassen regelhaft eine messbare Invalidität nicht begründen. Ist aber röntgenmorphologisch eine funktionell relevante Fehlstellung oder ein Falschgelenk vorhanden oder die Irritation der interkostalen Nerven nachzuweisen, so ist je nach Ausdehnung (1 bis 2 Rippen oder Rippenserienbruch) die Invalidität bis ≤ 10 % zu begründen. Fehl- oder falschgelenkig verheilte Rippenbrüche nach Rippenserienbruch mit erkennbarer Deformierung des Brustkorbes sind bei nachgewiesener Störung der Atemmechanik mit 10 % zu bemessen bei interpolierender Betrachtung der Lungenfunktionsstörung. Es ist also in diesen Fällen (und das auch insbesondere bei Schwielen- und Schwartenbildungen) eine fachinternistische Lungenfunktionsdiagnostik/Zusatzbegutachtung erforderlich. Diesbezüglich sind auch Folgen von Blut- oder Luftansammlungen zwischen Lunge und Brustkorbwand regelhaft fachinternistisch mit zu beurteilen.
Bauchdecke
Reizlos und stabil verheilte Bauchwandnarben nach Bauchöffnung führen regelhaft nicht zu funktionellen Beeinträchtigungen.
Liegen narbige Umbildungen im Sinne eines Keloids oder auch Verwachsungsbeschwerden vor, so sind bei nachgewiesenen Funktionsstörungen (z. B. mit fotografischen und/oder sonografischen/kernspintomografischen Befunden) Invaliditätswerte bis 5 % zu rechtfertigen.
Bei großen Bauchwandhernien kommt es bereits bei der normalen Bauchpresse zum Austritt von Eingeweiden, so dass regelhaft das Tragen eines Bruchbandes bereits bei normalen Verrichtungen des täglichen Lebens erforderlich ist. Allerdings spielen in der PUV Hilfsmittel mit Ausnahme der Brille/Kontaktlinse keine Rolle, deshalb ist die Größe/Ausdehnung des Bauchwandbruchs invaliditätsrelevant. Andererseits führen Vorwölbungen von Eingeweiden bei kleineren Bauchwandhernien eher zu einer Einklemmung. Ein solcher Zustand ist aber regelhaft eine Operationsindikation und wird dementsprechend nicht als Unfallverletzungsfolgezustand zu bewerten sein. Insofern bleibt unter funktionellen Gesichtspunkten lediglich die „funktionelle“ Abstufung anhand der Größe des Bauchwandbruchs.
Verbrennungs-/Verbrühungs-/Verätzungsfolgen/-narben
Zu diesem Komplex können keine allgemein gültigen Eckwerte einer Invaliditätsbemessung angegeben werden, da die Folgen von Verbrennungen und/oder Verbrühungen weit gestreut sind. Es müssen aber Kenntnisse aus den ärztlichen Behandlungsdokumentationen vorliegen über den Schweregrad und die Ausdehnung der Primärverletzung. Erst dann ist es auch möglich, die Haut als Organ des Körpers zu begreifen mit ihrer sowohl äußeren Schutzfunktion als auch ihrer Mitbeteiligung an der Regulation des Temperatur-, Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts (Menke, 2016). Kann sich also der Betroffene noch Temperaturschwankungen aussetzen oder ist ihm das auf Grund der Temperaturregulationsstörung verwehrt? Auch müssen Berücksichtigung finden ggf. vorliegende taktile Funktionsstörungen, Störungen über die der originären Hautfunktion hinausgehende Folgen z. B. durch Narbenstränge mit Störungen der Gelenkbeweglichkeit.
Zur Beschreibung der Narben müssen Aussagen getroffen werden über
Weiter sind Informationen notwendig über
All diese und ggf. noch weitere Parameter müssen beschrieben und diskutiert werden, bevor man das Gesamtbild dann mit Funktionsbeeinträchtigungen inner- und außerhalb der Gliedertaxe vergleicht. Dies macht es dem Gutachter möglich, eine plausible und transparente Invaliditätsbemessung vorzunehmen.
Punktesysteme, wie sie zur Schätzung der MdE vorgeschlagen werden (Menke, 2016), gaukeln nur eine mathematische Genauigkeit vor und können bei der Invaliditätsbemessung keine Anwendung finden.
Addendum
Nach der BGH-Rechtsprechung vom 01.04.2015 soll die Schulter nicht zum Arm gehören. Danach müsste die Invalidität wie folgt außerhalb der Gliedertaxe bemessen werden:
Literatur
1 Der größte Teil der Literatur, die im Rahmen der Erarbeitung dieser Bemessungsempfehlungen in Bezug genommen wurde, findet sich in den angegebenen Grundlagenpublikationen.
2 FGIMB. (2024). https://www.fgimb.de/referenzwerte-invaliditaet.html.
3 GDV. (2020). https://www.gdv.de/resource/blob/6252/f5121ebea18eb5800be7566316330293/….
4 Klemm. (2024). invaliditaet-online.de.
5 Klemm, H. T., Ludolph, E., Willauschus, W., & Wich, M. (2022a). [New assessment recommendations for disability in private accident insurance part 3 : An interdisciplinary consensus approach-Lower extremities]. Unfallchirurgie (Heidelb). https://doi.org/10.1007/s00113-022-01265-x (Neue Bemessungsempfehlungen zur Invaliditat in der PUV, Teil 3 : Ein fachubergreifend konsentierter Ansatz - untere Extremitaten.)
6 Klemm, H. T., Ludolph, E., Willauschus, W., & Wich, M. (2022b). [New assessment recommendations for disability in private accident insurance, part 1 : An interdisciplinary consented approach-Basics]. Unfallchirurg. https://doi.org/10.1007/s00113-022-01161-4 (Neue Bemessungsempfehlungen zur Invaliditat in der PUV, Teil 1 : Ein fachubergreifend konsentierter Ansatz - Grundlagen.)
7 Klemm, H. T., Ludolph, E., Willauschus, W., & Wich, M. (2022c). [New assessment recommendations for disability in private accident insurance, part 2 : An interdisciplinary consented approach-upper extremities]. Unfallchirurgie (Heidelb). https://doi.org/10.1007/s00113-022-01223-7 (Neue Bemessungsempfehlungen zur Invaliditat in der PUV, Teil 2 : Ein fachubergreifend konsentierter Ansatz - Obere Extremitaten.)
8 Klemm, H. T., Ludolph, E., Willauschus, W., Wich, M., & Heintel, T. (2023). [New assessment recommendations for disability in private accident insurance, part 4 : An interdisciplinary consensus approach-Disability outside the compensation scheme]. Unfallchirurgie (Heidelb). https://doi.org/10.1007/s00113-023-01344-7 (Neue Bemessungsempfehlungen zur Invaliditat in der PUV, Teil 4 : Ein fachubergreifend konsentierter Ansatz - Invaliditat ausserhalb der Gliedertaxe.)
9 Menke, H. (2016). Begutachtung von Verbrennungsfolgen. In M. Lehnhardt, B. Hartmann, & B. Reichert (Eds.), Verbrennungschirurgie (pp. 473-479). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-54444-6_41
10 Putz, R. (1981). Funktionelle Anatomie der Wirbelgelenke (W. Doerr & H. Leonhardt, Eds. Vol. 43). Georg Thieme Verlag Stuttgart, New York.
11 White, A. A., & Panjabi, M. M. (1990). Clinical biomechanics of the spine (2nd ed.). Lippincott.
Interessenkonflikt: Kein Interessenkonflikt angegeben
Anschrift für die Verfasser
Dr.med. Holm-Torsten Klemm
FIMB Bayreuth
Ludwigstrasse 25, 95444 Bayreuth